Das Bergmassiv Sellastock in Südtirol ist ein Genuss für Alpinisten - und eine Herausforderung für Freizeitwanderer.

Freizeit & Unterhaltung: Bettina Bernhard (bb)

Steine, so weit das Auge reicht. Große, dicke, die den Weg versperren und einen zwingen, die schmerzenden Beine zu heben. Kleine, scharfkantige, die wegrutschen, sobald man drauf tritt. Was für ein Abstieg! 1000 Höhenmeter hinab über eine steile Geröllwüste. Die Oberschenkel brennen, die Waden zwicken, die Knie knirschen. In der Beschreibung klingt die Etappe harmlos: „Vom Grödner Joch zum Sellastock.“ Leider führt der Weg über den Sellastock, einen massiven steinernen Koloss, 7000 Meter breit, 9500 lang und 3152 Meter hoch mit fast senkrechten Kanten. Ein Traum von einem Bergmassiv, Inspiration für Maler und Fotografen. Genuss für Alpinisten, Herausforderung für Freizeitwanderer. Die Sella-Überquerung ist die Königsetappe, die Krönung der mehrtägigen Trekkingtour.

 

Die Trekkingtour beginnt entspannt

Flott bringt die Standseilbahn die Wanderer von St. Ulrich hinauf zur Raschötzer Alm auf 2093 Meter. Damit ist die „Betriebshöhe“ erreicht und wird in den nächsten Tagen nicht mehr unterschritten. Gemütlich geht es auf weichen, naturbelassenen Wegen über die Alm. Der Körper gewöhnt sich an den Rucksack, der trotz Sparpackens einige Kilo auf die Waage bringt. Die Sonne hat Kraft hier oben. Gut, dass noch einige Zirben Schatten spenden. Die seltsam geformten, zauseligen Kieferngewächse markieren die Baumgrenze. So hoch oben hält kein anderer Baum durch, und auch die Zirben arbeiten mit einem Trick: Ihre Nadeln wachsen in Büscheln, und die rollen sich gegen die Kälte zu einem Knäuel zusammen. Die Schnitzer, für die das Grödnertal bekannt ist, lieben das Holz. „Es ist gut zu bearbeiten, aber unempfindlich und haltbar“, sagt Wanderführer Manuel Runggaldier. Er muss es wissen, ist er doch im Zweitberuf Schnitzer und Vergolder. Am Wegesrand leuchten die letzten Preiselbeeren im Blattgrün. Wo der Rest geblieben ist, klärt sich umgehend. Zum italienischen Kaffee serviert die Wirtin der Brogles-Hütte Tiroler Linzertorte mit Grödener Preiselbeeren. Dann ist Schluss mit lustig.

Schon der steile Aufstieg zur Pana-Scharte hat wenig von einem Spaziergang. 20 Meter nach links, Kehrtwende, 20 Meter nach rechts, Kehrtwende. Schritt für Schritt ein bisschen höher. Dann kommt der blanke Fels, freundlicherweise dekoriert mit Stufen und einem Stahlseil zum Hochziehen und Sichern. Plötzlich ist die mächtige Wand weg, der Durchbruch geschafft. Auf der anderen Seite der Scharte präsentieren sich die Geißlerspitzen moderat modelliert statt schroff und senkrecht. Hier drückten tektonische Kräfte das ehemals riesige Korallenriff nach oben, die Rückseite brach steil ab. Wind, Wasser und Vulkanismus taten ein Übriges und formten die charakteristischen Steilzacken. Über die sanft geschwungenen Weiden der Seceda läuft es sich fast von selbst bergab. Wer weiß, wo er hinschauen muss, entdeckt ganze Großfamilien streng geschützter Edelweiße. Mit ihren Holzhütten und den klaren Miniseen wirkt die Landschaft wie aus dem Bilderbuch. Die abendliche Einkehr im Almhotel am Col Raiser hält alles, was die Trekking- Variante de luxe versprochen hat: eine bullig geheizte Sauna zur Muskellockerung und ein mehrgängiges Menü, das all die tapfer abgewanderten Kalorien im Energiespeicher wieder auffüllt. Aber wer mag der Südtiroler Küche schon widerstehen.

1000 Höhenmeter stehen heute auf dem Plan

Gut gegessen wird auch bei den Basic-Trekkern in der Schutzhütte. Nur müssen die jetzt schnell in ihr Matratzenlager und einschlafen, bevor einer zu schnarchen beginnt. Am nächsten Tag kündigt Wanderführer Ugo Demetz vorsorglich an, dass heute keine Zeit ist, jedes Bergblümchen mit Entzücken und Foto zu würdigen. Knapp 1000 Höhenmeter und 15 Kilometer stehen auf dem Plan. Bis zur ersten Scharte, der Forces de Siëles, ist es nur ein halber Kilometer - aber vertikal. Deshalb muss er im Zickzack erarbeitet werden. In 2500 Meter Höhe führt der Weg, gerade breit genug für zwei Wanderstiefel, an der Kante entlang. Links Fels, rechts Abhang, man könnte ins Grübeln kommen, wäre die Szenerie nicht so faszinierend. Gleichermaßen zerbrechlich und verletzlich wie monumental und scheinbar ewig wirken die Wände, durchzogen von Gerölllawinen und gespickt mit steinernen Skulpturen. Nach einem Aufwärmstopp in der Puez-Hütte trifft die Gruppe auf Leo. Der Schafhirte macht gerade Bestandsaufnahme bei seinen 700 Schafen, die hier oben den Sommer verbringen. Scharen schwarzer Dohlen fliegen spektakuläre Manöver, und auf einer Felsnase sitzen zwei Murmeltiere. Ein schriller Pfiff, und weg sind die Fellknäuel. Wenig später lebt scheinbar nichts mehr. Wie eine Mondlandschaft, karg und steinig, präsentiert sich der Weg durch Wüsten mit feinsten Sandbänken und unwirklichen Steinhaufen hinauf zum Cir-Joch. Nach dem Abstieg zum Grödner Joch zwicken die Waden heftig, doch der Abend im Chalet Gerard ist Balsam für den Körper. Wohlige Wärme im Whirlpool, Köstlichkeiten auf dem Teller. Das Paradies liegt heute in Gröden.

Frühmorgens verheißt ein Blick aus dem Fenster Großes: Der Sellastock trägt eine weiße Haube, die sich mit den ersten Sonnenstrahlen zartrosa färbt. Später ist die Sonne leider verschwunden, doch immerhin ist es trocken. Beim Aufstieg zum Sellamassiv kommt man schnell ins Schwitzen. Den endlosen Serpentinen folgen 200 Meter Klettersteig, senkrecht durch Fels. Dann ist das erste Etappenziel erreicht, die Pisciadù-Hütte auf 2585 Metern. Danach heißt es volle Konzentration, denn die Wetterküche hat Nebelsuppe auf dem Plan. Der Wanderführer versichert, dass der Blick vom Hochplateau und auf das Felsenrund ringsumher großartig sei, doch im Moment hat man Mühe, die nächste rot-weiße Markierung zu finden. Doch kurze Lichtblicke lassen zumindest erahnen, dass ein zweiter Besuch lohnen würde. Wider Erwarten verweigern die Beine am Tag nach der Sella-Etappe nicht ihren Dienst. Etwas langsamer als sonst, aber stolz wie Oskar bricht frau zur Langkofelscharte auf. Hinauf geht es schon routiniert in Serpentinen und durch die steinerne Stadt mit ihren mächtigen Trümmern. Oben eine kurze Einkehr in die wie ein Adlernest am Felsen thronende Toni-Demetz-Hütte, die erste beim heutigen Hütten-Hopping: Langkofel-, Plattkofel-, Zahlingerhütte, nach dem gestrigen Gewaltmarsch tut das gut. Die wanderbaren Häppchen summieren sich allerdings auf 900 Höhenmeter und 14 Kilometer, was sich abends bemerkbar macht. Welch ein Glücksgefühl am letzten Tag beim Auslaufen über die weiten, sanften Weiden der Seiser Alm. Dann verlassen die Wanderer die Krone aus Fels, die das Grödnertal so dekorativ umschließt, und schweben ganz entspannt mit der Bahn hinab nach St. Ulrich.

Infos zum Grödnertal

Grödnertal

Anreise

Mit dem Auto über Innsbruck und die Brenner-Autobahn bis zur Ausfahrt Klausen/Gröden.
Mit dem ICE ab Stuttgart nach München und weiter bis Brixen. Regionalzug nach Waidbruck und per Bus ins Grödnertal, www.bahn.de .

Geführte Trekkingtour Basic

Vier Tage Schutzhüttentrekking mit Bergführer, drei Übernachtungen im Matratzenlager in Berghütten, ca. 250 Euro inklusive HP. Termine: 30. Juni bis 3. Juli und 15. bis 18. September 2016. Tourlänge 60 Kilometer, 4155 Höhenmeter bergauf, 3939 Höhenmeter bergab. Wer individuell wandern will, dem hilft der Tourismusverband beim Organisieren und stellt Kartenmaterial zur Verfügung. Drei Übernachtungen mit Halbpension ca. 230 Euro plus Seilbahnfahrten.

Individuelle Trekkingtour de luxe

5-Tage-Trekkingtour, vier Übernachtungen im DZ in Almhotels, ca. 620 Euro inklusive HP und Kartenmaterial, die Seilbahnfahrten kommen noch dazu. Info und Buchung unter www.valgardena.it

Was Sie tun und lassen sollten

Auf jeden Fall muss man schwindelfrei und trittsicher sein sowie alpine Erfahrung, einen guten Orientierungssinn sowie Grundkondition haben.
Auf keinen Fall sollte man viel Gepäck mitschleppen.

Kleine Erleichterungen

Man kann sich vor Ort einen Gepäcktransport organisieren lassen. Speziell für die Sella-Überquerung empfiehlt es sich für nicht allzu geübte Bergwanderer, einen der ortskundigen Wanderführer zu engagieren. Infos bei den Tourismusvereinen unter Val Gardena Active, Tel. 00 39 / 4 71 77 76 00 oder www.valgardena-active.com