Bei dem Beben könnten mehr als 300 Menschen gestorben sein. Was die Opferzahlen angeht, könne das Beben „noch schlimmere Dimensionen erreichen als jenes in L’Aquila“, sagte Zivilschutz-Chef. Dort leben immer noch Menschen in Baracken.

Rom - Die erste Nacht nach dem starken Erdbeben in Mittelitalien ist vorbei. Hunderte Menschen haben sie in provisorischen Zeltstätten verbracht. Die Nächte in den Abruzzen sind kalt, selbst im August kann das Thermometer nachts unter 10 Grad fallen. In ihre Häuser konnten die Betroffenen nicht zurück, selbst wenn die Gebäude noch standen. Es war einfach zu gefährlich, die Einsturzgefahr zu hoch.

 

Wer überhaupt schlafen konnte, wurde um 5.17 Uhr aus dem Schlaf gerissen und war mit einem Mal hellwach. Ein Nachbeben der Stärke 4,5 ließ erneut die Erde schwanken. Das Epizentrum lag ausgerechnet in Accumoli, einem der bereits beim ersten Beben am meisten betroffenen Orte. Dort stürzten weitere Gebäude ein. 470 Nachbeben, die meisten von ihnen ein kurzes Erschüttern des Erdbodens, soll es laut italienischen Medien bereits gegeben haben.

Zeltstadt als Zufluchtsort

Die meisten Feriengäste sind wieder in ihre Heimatorte zurückgekehrt. Manche der einst 2600 Einwohner von Amatrice und den umliegenden Orten, die ebenfalls schwer beschädigt wurden, konnten erst einmal bei Verwandten unterkommen. Doch für rund 1000 war die Zeltstadt der einzige Zufluchtsort. Im Sportzentrum von Amatrice sind zudem Liegen aufgestellt worden.

Mindestens 241 Tote zählt der Zivilschutz an diesem Donnerstagmittag. Es könnten noch deutlich mehr sein, sagt der Chef des Zivilschutzes Fabrizio Curcio, vielleicht sogar mehr als in L’Aquila vor sieben Jahren, als 309 Menschen ums Leben kamen. „Es ist unmöglich, eine Zahl der Vermissten zu nennen“, sagte er.

Wie viele Menschen zum Zeitpunkt des schweren Bebens in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch in den Bergdörfern waren, weiß keiner genau: Es ist Ferienzeit. Es könnten zurzeit etwa zehn Mal so viele Menschen in den betroffenen Kommunen sein wie es Einwohner gibt, sagte Premierminister Matteo Renzi am Mittwochabend.

Viele Menschen aus den umliegenden Großstädten, die nicht ans Meer fahren, besuchen im Sommer Verwandte in den Bergen. Oder machen Urlaub in einem der Hotels. In vielen Familien ist es auch üblich, die Enkel in den Ferien zu „nonno e nonna“ zu schicken, also zu Opa und Oma – deshalb sind wohl auch so viele Kinder unter den Toten.

Renzi verspricht „echten“ Wideraufbau

Renzi hat den Betroffenen einen „echten“ Wiederaufbau in naher Zukunft versprochen. „Es wird nicht werden, wie in L’Aquila, wo man sich leider bei Wiederaufbau jahrelang verrannt hat“, sagt er. Es werde auch keine „New-Town“ nach dem berlusconischen Modell geben – Silvio Berlusconi war Premierminister Italiens, als in L’Aquila die Erde bebte. Dort wurden die Evakuierten in neuen Großsiedlungen außerhalb der Stadt untergebracht. In wenigen Monaten, so Renzi, werde man tatkräftig an der Rekonstruktion arbeiten. Die Menschen würden bald in ihre Häuser zurückkehren können, das historische Ortsbild soll erhalten bleiben. Doch die erste Priorität liege zunächst darauf, weiter zu graben, so Renzi. Der Premierminister lobte noch am Mittwochabend bei seinem Besuch in den Katastrophengebieten den enormen Einsatz der Helfer und ihre schnelle und professionelle Arbeit.

Auch wenn die Eindrücke der Katastrophe noch frisch sind – erste kritische Töne sind bereits zu hören, der Erdbebenschutz wird als unzureichend kritisiert. Italien ist das Land in Europa mit der höchsten Erdbebengefahr. Ein Fortsatz an der afrikanischen Erdplatte schiebt sich direkt unter dem Stiefel in die eurasische. Die Grenze zwischen den beiden Platten liegt quasi unter einem Teil des Abruzzischen Apennin. Bewegen sich diese Platten, bebt die Erde. Die meisten der schweren Beben Italiens lagen an dieser tektonischen Linie. Dennoch sollen laut einem Bericht der Enea, der nationalen Agentur für neue Technologien, Energie und nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung, nur etwa 30 Prozent der Gebäude in Italien die Vorgaben für Erdbebensicherheit erfüllen. Das liegt vor allem daran, dass die meisten Häuser älter als 50 Jahre sind und nicht nach modernen Standards gebaut wurden. Der Vorwurf: Werden alte Häuser restauriert, konzentriere man sich hauptsächlich auf architektonische Aspekte, auf die Ausbesserung von Schäden. Der fehlende Erdbebenschutz werde dabei nicht berücksichtig.

Eine Schule, die als erdbebensicher galt, ist eingestürzt

Dabei rechnen Experten vor: Der Wiederaufbau solch zerstörter Orte wie nun Amatrice oder Accumoli koste fünf Mal mehr als vorbeugende Maßnahmen an bestehenden Gebäuden. Doch auch seit der Katastrophe in L’Aqulia im April 2009 ist wenig bis gar nichts in diese Richtung passiert. 2013 kam bei einer landesweiten Untersuchung der Gesundheitsversorgung ans Tageslicht, dass rund 500 Krankenhäuser in Italien erdbebengefährdet sind. Leider, so betont die Enea, werde die Investition in Erdbebensicherheit eines Gebäudes nur unter dem Aspekt zusätzlicher Kostensteigerung betrachtet und nicht als ein unerlässliches Element der Sicherheit. Ein weiteres Problem sind mangelnde Kontrollen. In Amatrice ist auch ein Schulneubau in sich zusammengefallen, der als erdbebensicher galt.

Eine verkehrte Welt: Denn Italien zählt auf der wissenschaftlichen Ebene in der Erforschung von Erdbeben zur Avantgarde, rangiert gleich hinter Japan, China, Russland und den USA. Vorherzusehen sei das aktuelle Erdbeben in Italien allerdings nicht gewesen, sagen auch deutsche Wissenschaftler. In der Region seien jederzeit Erdbeben dieser Stärke möglich – ohne dass es zuvor messbare Hinweise geben muss. Manche Erschütterung kommt einfach wie aus dem Nichts.