Im letzten Teil unseres Jahresrückblicks im Lokalen schauen wir zurück auf den Jägermeister Campus, eine eher ungewöhnliche WG. Die lokale Politik sprach zunächst von verschwendetem Wohnraum.

Freizeit & Unterhaltung : Ingmar Volkmann (ivo)

Stuttgart - Der Weg hinauf zum Jägermeister-Campus am Hans-im-Glück-Brunnen führt durch die dunkle Seite der Nacht, vorbei an den Bars Bergamo und Corso Bar. Der erste Teil des Treppenhauses ist weitestgehend beleuchtungsfrei, dafür klebt jede einzelne Stufe, damit man im Dunkeln nicht den Halt verliert. Jeder Treppenabsatz dürfte in Wodka eingelegt sein, vielleicht ist ja auch der ein oder andere Tropfen Kräuterlikör aus dem mondänen Wolfenbüttel, der Jägermeister-Heimat, mit dabei. Hat man dann aber die WG erreicht, in der fünf junge Menschen, die wegen ihrer künstlerischen Talente ausgesucht wurden, dank Jägermeister für ein Jahr mietfrei wohnen dürfen, muss man attestieren, dass sich der Aufstieg gelohnt hat. Die WG ist ein Hingucker, sie erstreckt sich über zwei Etagen. Die Einrichtung bewegt sich weit über dem WG-Standard.

 

Ebenso erfreulich ist die Tatsache, dass der Kräuterschnaps-Hersteller nur sehr subtil präsent ist: Hier und da ein Hirschgeweih und zu Vasen umfunktionierte grüne Flaschen, mehr Schleichwerbung ist da nicht. Dankenswerter Weise serviert Johanna Reichenbach zum Gespräch auch keinen Schnaps, sondern Milchkaffee aus der Kaffeemaschine, die natürlich auch gesponsert ist. „Ich stamme aus einer nicht gerade reichen Familie. Bis ich nach Stuttgart gezogen bin, habe ich mir das Zimmer mit meiner Zwillingsschwester Josi geteilt. Diese WG ist für mich purer Luxus“, sagt die 19 Jährige, die gerne an der Kunst-Akademie Textildesign studieren würde. Ihre eineiige Zwillingsschwester Josi wohnt in Sichtweite über dem XXL-Burger.

Ein Lehrstück der Politik in Stuttgart

Josi Reichenbach hatte also freie Sicht auf ein Lehrstück über Dialektik in der Politik, denn nichts anderes war der Ärger um die Alkohol-gesponserte WG 2015. Die grüne Bezirksvorsteherin von Mitte, Veronika Kienzle, reagierte auf die Pläne des Konzerns mit dem ihr eigenen Grad der Aufregung. Kienzle, die sich selbst gerne in der Rolle des City-Sheriffs sieht, verurteilte den Plan, Wohnraum für Partyzwecke zweckzuentfremden.

Der Vorsitzende des Mieterschutzbundes, Rolf Gaßmann, sekundierte und brandmarkte die Promo-Aktion in einem offenen Brief aufs Schärfste, ehe der Besitzer des Hauses, die Stinag AG, der Immobilien-Arm der Brauerei Hofbräu, intervenierte. Schließlich waren sowohl Kienzle als auch Gaßmann von falschen Parametern ausgegangen: Voraussetzung für eine Aufnahme in den Jägermeister-Campus war nicht der Wunsch, Wohnraum für eine öffentliche Dauerparty zu nutzen, sondern die Absicht, in den Lokalen unter der WG Konzerte und Ausstellungen zu organisieren.

Ein Lehrstück aktuellen Konzern-Marketings

Hier wurde also kein Wohnraum geraubt, sondern vielmehr ein Lehrstück aktuellen Konzern-Marketings aufgeführt – das man natürlich nicht nur super finden muss. Der SWR drehte einen Fernsehbeitrag, dem man anmerkte, dass die Journalistin die Schnaps-WG am Hans-im-Glück-Brunnen auf keinen Fall gut finden wollte. Die mittelwitzige Satire-Sendung Extra 3 des NDR nutzte diese Steilvorlage, um ein Filmchen zu drehen, in dem vor allem Johanna Reichenbach nicht so gut wegkam.

Firmen wie Jägermeister und andere haben sich eben längst vom klassischen Marketing verabschiedet. In Stuttgart hat der Schnaps-Konzern schon vor der WG ein Zimmer im Hotel Schwabennest gestaltet. Die Daimler-Tochter Moovel hat ein Geheimkonzert mit Woodkid in der Liederhalle organisiert, ausschließlich für Car2go-Kunden. So spielen die Konzerne mit dem Lebensgefühl der Generationen, die von Agenturen als werberelevant identifiziert werden. Johanna Reichenbach fühlt sich nicht als Werbeträger missbraucht. „Ich konnte mit einem Freund eine Foto-Ausstellung im Bergamo gestalten, im neuen Jahr werden wir Konzerte veranstalten, und mittwochs haben wir wochenlang Waffeln verkauft, um von dem Geld Flüchtlingskindern Skateboard-Unterricht zu ermöglichen.“

Das kostenlose Wohnen am Hans-im-Glück-Brunnen ist für Johanna und ihre vier Mitstreiter auf ein Jahr begrenzt. Hat Johanna Reichenbach schon jetzt Angst vor dem Ende ihrer Zeit in der Luxus-WG? „Nein, überhaupt nicht. Ich freue mich darauf, dann wieder mit meiner Schwester Josi zusammenwohnen zu können.“ Die beiden suchen schon jetzt nach einer gemeinsamen Wohnung. Schließlich hat Johanna in Stuttgart vor allem eines gelernt: Wohnraum ist ein Politikum und hart umkämpftes Gut in dieser Stadt.

Was sonst noch im Dezember 2015 in Stuttgart geschah:

7. Dezember
: Der hiesige Flughafen begrüßt den zehnmillionsten Fluggast ab Stuttgart. 2016 hofft man auf elf Millionen Flugreisende.

12. Dezember:
Im neuen Jahr wollen die Stadt und das Land bei Inversionswetterlagen an die Bürger der Region appellieren, freiwillig auf öffentliche Verkehrsmittel umzusteigen. Auf Fahrverbote will die Politik vorerst noch verzichten.

15. Dezember
: Der Konflikt zwischen Kurden und Türken erreicht in Stuttgart eine neue Dimension. Vier Täter werfen Brandsätze in ein Gebäude der Türkisch-Islamischen Gemeinde in Feuerbach.

17. Dezember
: In Feuerbach wird der Arm eines 50-Jährigen in der Tür einer S-Bahn eingeklemmt. Er wird mitgeschleift und tödlich verletzt.

18. Dezember: Das
Land Baden-Württember und die Polizei entschuldigen sich für den rechtswidrigen Einsatz zur Räumung des Schlossgartens am „schwarzen Donnerstag“ am 30. September 2010.