Vor einem Jahr verübten Islamisten ein Massaker in den Redaktionsräumen der französischen Satire-Zeitschrift „Charlie Hebdo“. Die Franzosen reagierte darauf besonnen – und mit großem Zusammenhalt. Übrig ist davon nichts mehr.

Korrespondenten: Stefan Brändle (brä)

Stuttgart - Schon ein Jahr! Ein Jahr ist es her, dass zwei Brüder namens Chérif und Saïd Kouachi in die Redaktionssitzung des Satireblattes „Charlie Hebdo“ eindrangen und mit ihren Kalaschnikows ein Blutbad anrichteten. Einen Tag später brachte ihr Komplize Amédy Coulibaly eine Polizistin im Pariser Vorort Montrouge um; am dritten Tag, erschoss er in einem jüdischen Kleinmarkt mehrere Geiseln, während die Polizei gerade die Kouachis in einer Fabrik östlich der Hauptstadt stellte.   17 Menschen plus die drei Terroristen ließen dabei ihr Leben.

 

Frankreich stand unter Schock: Am auf die Anschläge folgenden Sonntag gingen in Paris spontan vier Millionen Menschen auf die Straße und beschworen die Solidaritätsdevise „Je suis Charlie“. An der Spitze der Pariser Demo – die so riesig war, dass sie in drei Züge geteilt werden musste – marschierten gut 40 Staats- und Regierungschefs von Angela Merkel bis Viktor Orban.   In den Wochen danach ging Frankreich in sich und fragte sich, wie es so weit hatte kommen können; Premierminister Manuel Valls gelangte gar zur Einsicht, dass die Banlieue-Jugend in einer sozialen, schulischen und geografischen „Apartheid“ lebe. Präsident François Hollande warnte vor einer Verurteilung aller französischen Muslime und versicherte, die Republik sorge sich um Bürger aller Religionen.

Nach der Einigkeit kam der Streit

Bald zeigten sich allerdings Risse im schönen Bild nationaler Eintracht. Der Soziologe Emmanuel Todd behauptete, den „Je suis Charlie“-Rufern ginge es gar nicht um das Recht auf freie Meinungsäußerung. Die „weiße katholische Mittelschicht“ in Frankreich habe ein grundlegendes Problem mit dem Islam. Es ginge ihr nur darum „ihre Privilegien und insbesondere ihr gutes  Gewissen gegen Ausgeschlossene, alteingesessene Arbeiter oder Kindern von Einwanderern zu verteidigen“.

Luz, ein „survivant“ (Überlebender) und tragender Pfeiler von „Charlie Hebdo“, der nach dem Anschlag das kongeniale Cover mit dem weinenden Propheten entworfen hatte, brach ein langes Schweigen und erklärte, er sei es „müde“, weiter Mohammed zu zeichnen und falsch verstanden zu werden. Im September schied er aus der Redaktion aus.  

Und ein Bestseller wirkte weiter: Michel Houellebecq beschrieb in der Politfiktion „Unterwerfung“ einen Wahlsieg der Islamisten in Frankreich. Der Plot entspringt eher den Fantasien eines hochneurotischen Autors als der wahlpolitischen Realisierbarkeit, doch das tat nichts zur Sache: Dass das Buch zufällig am Tag der Charlie-Anschläge erschienen war, verlieh ihm Kultstatus.  Ebenso defätistisch und erfolgreich war „Der französische Selbstmord“ des Reaktionärs Eric Zemmour. Die Einwanderer, so der Autor, „zehren die jüdisch-christliche Bevölkerung und die nationale Identität Frankreichs auf“.

Nun ist die Rede vom „Krieg der Zivilisationen“

Dann erzitterte Frankreich ein zweites Mal in seinen Grundfesten, als ein Terrorkommando am 13. November die Gäste von Pariser Bistroterrassen und im Konzertsaal Bataclan mit Sturmgewehren niedermähte. 130 Tote blieben zurück, 350 wurden teils schwer verletzt. Unter den Getroffenen auch: der Charlie-Geist: Versöhnlichkeit, Brüderlichkeit und republikanisches Zusammenstehen sind in Frankreich nicht mehr aktuell.

Hollande gab sich martialisch und dekretierte den nationalen Ausnahmezustand; der frühere Banlieue-Bürgermeister Valls äußerte kein Verständnis mehr für perspektivlose Einwanderer-Kids, sondern sprach von einem „Krieg der Zivilisationen“. Das gesamte Vorgehen der beiden Sozialisten erinnerte eher an den amerikanischen „Patriot Act“ nach den Nine-Eleven-Anschlägen auf die New Yorker Twin Towers: Frankreich drapiert sich in die Trikolore, die Armeepatrouillen in den Straßen gehören heute ebenso zum Alltag wie die – bereits über 3000 – Hausdurchsuchungen, die in Wohnvierteln ohne richterliche Ermächtigung vorgenommen wurden und werden.  

Auf Korsika skandiert ein Mob „Araber raus!“

Und der innenpolitische Wind ist ebenfalls umgeschlagen: Bei den Regionalwahlen Mitte Dezember schlug sich der rechtsextreme Front National hervorragend – und treibt Hollande nun vor sich her. Der Philosoph Alain Finkielkraut tönte wie ein Le-Pen-Echo, er fühle sich angesichts der Immigration fremd im eigenen Land.  

Das gilt allerdings mindestens so sehr für Hunderttausende junger Franzosen der zweiten und dritten Einwanderergeneration: Im Vorstadtzug werden sie misstrauisch angeschaut, bei der Ankunft im Pariser Gare du Nord von der Polizei gefilzt. Die Zahl islamfeindlicher Akte – Anschläge auf Moscheen und dergleichen – ist 2015 auf über 400 hochgeschnellt. Als an Weihnachten ein paar Banlieue-Rowdys in der korsischen Stadt Ajaccio Feuerwehrleute mit Steinen bewarfen, versammelte sich im Stadtzentrum aus dem Nichts ein Mob. Zum Ruf „Arabi fora!“ (Araber raus) zogen ein paar Hundert Korsen zu einem moslemischen Gebetsraum und verwüsteten ihn. Dann verbrannten sie Exemplare des Korans, von dem die Steinewerfer wohl noch keinen Buchstaben gelesen haben.  Die IS-Terrorstrategen im fernen Syrien reiben sich die Hände.  

In einigen anderen Städten hatten muslimische Verbände am Heiligabend hingegen mitgeholfen, Kirchen vor befürchteten Anschlägen zu schützen. „Wir leben zusammen, wir sind alle Brüder“, meinte Organisator Hachim El Jazouli in Lens (Nordfrankreich). Die Kirchenbesucher spendeten der symbolischen Aktion dankbar Applaus. Vielleicht erinnerten sie sich kurz an die Zeit, als in Frankreich noch der „Esprit Charlie“ geweht hatte.