Exklusiv Stuttgart-21-Gegner erinnern am Jahrestag des Schwarzen Donnerstags an die Ereignisse im Schlossgarten im Jahr 2010. Die Polizei hat den Tag noch nicht aufgearbeitet. Die Gewerkschaft sieht Klärungsbedarf.

Stuttgart - Vor allem für Stuttgart-21-Gegner ist das heutige Datum ein Gedenktag. Sie erinnern an den Schwarzen Donnerstag, als viele Menschen bei einem aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatz gegen Demonstranten verletzt wurden. Tausende kamen in den Schlossgarten, um gegen Baumfällungen für das umstrittene Bahnprojekt Stuttgart 21 zu protestieren. Die Polizei ging mit Schlagstöcken, Pfefferspray und sogar mit Wasserwerfern gegen die Menge vor.

 

Der Schwarze Donnerstag wirkt bei allen Beteiligten nach

Jedoch wirkt dieser Tag nicht nur bei den Gegnern nach. Auch in der Polizei ist noch keine Ruhe eingekehrt. Ende August hatten Beteiligte am Wasserwerfereinsatz Strafbefehle erhalten. Das hat die Diskussion über einen auch in weiten Teilen der Polizei von vielen als zu hart bewerteten Einsatz wieder angestachelt. „Die Kollegen überlegen sich, ob sie noch in einen Wasserwerfer steigen sollen“, sagt Hans-Jürgen Kirstein, der stellvertretende Landesvorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP).

Beamte würden sich fragen, ob es ihnen auch passieren könne, dass sie bestraft werden, wenn sie sich an einen Einsatzbefehl halten. „Dass strafbare Handlungen geahndet werden, steht außer Frage. Aber wie sieht es mit den Befehlsempfängern aus?“ gibt Kirstein die Stimmung bei der Biberacher Bereitschaftspolizei, dem Standort der Wasserwerfer, wieder. Bestraft wurden ein Staffelführer und zwei Kommandanten wegen fahrlässiger Körperverletzung im Amt.

Die Konsequenz ist für die Gewerkschaft eine politische Diskussion über den Einsatz der Wasserwerfer in der Zukunft. „Es ist zu klären, wie Wasserwerfer eingestuft sind, ob als sanfteres oder härteres Einsatzmittel als Schlagstöcke“, formuliert Kirstein eine Frage an die Politik. Manche Kollegen würden fragen, ob man Wasserwerfer überhaupt noch einsetzen solle.

Innenminister Gall hält Wasserwerfer weiterhin für notwendig

Der Innenminister Reinhold Gall (SPD) hält Wasserwerfer weiterhin für notwendig. „Der Wasserwerfer ist das einzige Distanzmittel, über das die Polizei verfügt, das auf größere Entfernung eingesetzt werden kann. Er lässt unterschiedliche Einsatzformen zu, so dass angemessen auf die jeweilige Lageentwicklung reagiert werden kann“, sagt Gall. Ein Verzicht auf die Möglichkeit zum Einsatz von Wasserwerfern komme für ihn deshalb nicht in Betracht. Jeder Einsatz unterliege dem Gebot der Verhältnismäßigkeit, sagt Gall weiter.

Für manche Polizisten, die am 30. September 2010 im Einsatz waren, komme aber ein Dienst im Wasserwerfer nicht mehr infrage, sagt der GdP-Mann Kirstein, der wie die bestraften Beamten in Biberach Dienst tut. „Sie wollen nicht mehr. Wir suchen für sie eine neue Aufgabe.“ Das werde durch die Polizeireform erleichtert. Der neue Standort der Wasserwerfer wird von 2014 an Bruchsal sein und nicht mehr Biberach. Nicht zuletzt herrsche bei der Polizei nach wie vor Frust, dass die „Kleinen“ bestraft worden seien, während die politisch Verantwortlichen ungestraft davongekommen seien, sagt der Gewerkschafter.

S-21-Gegner sind über Ministerpräsident Kretschmann empört

Das ist der einzige Punkt, den die Stuttgart-21-Gegner ähnlich beurteilen. Sie üben aber auch Kritik an der neuen, grün-roten Landesregierung. Eine Ankündigung aus der Staatskanzlei löste in ihrem Lager ein mittleres Erdbeben der Empörung aus. Dass Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) ausgerechnet am 30. September mit einer Delegation das Volksfest besuchen will, an jenem Tag, an dem sich der Schwarze Donnerstag zum dritten Mal jährt, können viele nicht fassen. Zumal zeitgleich von den Parkschützern zu einer Kundgebung in den Schlossgarten geladen wird. „Das ist der Gipfel der Geschmacklosigkeit“, sagt Dieter Reicherter, ehemaliger Strafrichter am Landgericht und regelmäßiger Redner bei Demos gegen Stuttgart 21.

Angeschlossen hat sich der Jurist der Bewegung aufgrund der Ereignisse vom 30. September 2010, die er zufällig miterlebt hat. Drei Jahre später kämpft Reicherter noch immer um die „juristische und emotionale Aufarbeitung“ des Einsatzes, der die Stadt zerrissen und zahlreiche Menschen traumatisiert habe. So hat er jüngst vor dem Verwaltungsgericht Stuttgart eine Klage eingereicht, um zu erreichen, dass das Staatsministerium einige E-Mails zum Polizeieinsatz zugänglich macht, die aus dem Postfach des damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU) stammen sollen. Die Frage nach der politischen Verantwortung sei immer noch nicht geklärt, betont Reicherter. Strafrechtliche Ermittlungen stünden aus, etwa bezüglich des nach Polizeiverordnung verbotenen Einsatzes von Pfefferspray gegen Kinder. „Solange die Geschehnisse nicht richtig aufgearbeitet sind, wird es in Stuttgart keine Ruhe geben“, sagt Reicherter.

Aufhebung des Rahmenbefehls gefordert

Zu den Forderungen der Kritiker und Aktivisten gehört allen voran die „unverzügliche Aufhebung des Rahmenbefehls zur Überwachung der S-21-Bewegung“, wie Philipp Franke betont, der Kreisvorsitzende der Stuttgarter Grünen. Dieser Schritt gehöre zur politischen Aufarbeitung dieses Einsatzes entfesselter Staatsgewalt. Auch die Co-Kreisvorsitzende Petra Rühle spricht von einer „ fortwährenden Überwachung der insgesamt friedlichen Bewegung mit rechtsstaatlich bedenklichen Instrumenten“, die nicht akzeptabel sei.

Es sollen Lehren gezogen werden

Besagter Rahmenbefehl zur Überwachung des Widerstands gegen Stuttgart 21 war im Jahr 2010 vom damaligen CDU-Innenminister Heribert Rech erlassen und im Dezember 2011 von seinem Nachfolger Reinhold Gall (SPD) verlängert worden. Auch unter der grün-roten Landesregierung werden seither alle drei Wochen Gefährdungslagebilder erstellt, in denen beispielsweise erfasst wird, wenn sich Parkschützer in Bahnhofsnähe zu einem Protestfrühstück versammeln. Dass die einstigen Mitstreiter sich für so etwas hergeben, sei ein „heftiges Ding“, sagt Matthias von Hermann, Sprecher der Parkschützer. Viele Menschen seien noch heute traumatisiert von den Ereignissen im Schlossgarten, nach wie vor fehle es an der notwendigen umfassenden Aufarbeitung. Um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, müssten seitens der Politik neue, unabhängige Untersuchungen durchgeführt werden, so von Hermann, der nicht verstehen will, warum die Grünen als Regierungspartei nicht alles daran setzen, einen neuen Untersuchungsausschuss im Landtag einzurichten.

Der ehemalige Oberbürgermeister Wolfgang Schuster (CDU), in dessen Amtszeit der Schwarze Donnerstag fällt, sieht das anders. Er sagt, dass alles unternommen worden sei, um den Ursachen nachzugehen. Man müsse die Lehren aus solchen Vorgängen ziehen und Konfrontationen dieser Art vermeiden. Dies sei bei späteren heiklen Polizeieinsätzen auch gelungen, meint der Verfechter der S-21-Pläne.

Die Polizei hat gelernt, mehr Transparenz zu leben

Die Polizei habe aus dem 30. September gelernt, dass sie ihr Vorgehen transparent machen müsse, sagt der Polizeisprecher Stefan Keilbach. Als Beispiele nennt er die Ankündigungen der Polizeieinsätze bei der Räumung des Bereichs vor dem Südflügel und des Schlossgartens im Winter 2012. Eine Linie, die auch bei anderen Einsätzen nun verfolgt wird – zum Beispiel in dieser Woche bei der Einheitsfeier in der Stadt. Das Stuttgarter Polizeipräsidium habe zur Erhöhung der Transparenz auch Twitter und Facebook als neue Kommunikationsmittel gesetzt.