Seit 2015 hat die Zuwanderungsfrage die deutsche Politik, vor allem die Union, fest im Griff. Sie reagiert nicht nur rational. Sonst ließe sich die Strategie der CSU gar nicht verstehen.

Berlin - Politik ist nicht so, wie es sich die Kanzlerin wünscht. Nicht so rational, so kühl und logisch. Politische Fragen lassen sich nicht lösen wie eine mathematische Gleichung. Der menschliche Faktor fügt sich nicht den Gesetzen von Arithmetik und Schlusslehre. Es menschelt und brodelt und eifersüchtelt. Das macht die politischen Dinge so unberechenbar. Weil sie sich ständig verhaken können, auch an ganz unerwarteten Stellen.

 

Das Thema Zuwanderung ist ein Musterbeispiel dafür. Es dominiert die deutsche Innenpolitik seit dem Jahre 2015. Es spaltet die Union. Es verzögert die Koalitionsbildung. Weil sich am kleinsten der vielen Aspekte der Flüchtlingsfrage, dem Familiennachzug von subsidiär geschützten Menschen, alles wieder mal verkantet. Die CSU stellt sich quer. Wer an den Kern dieses Dauerkonflikts gelangen will, kommt mit Vernunft nicht weit. Da braucht es psychologische Kriterien. Und vielleicht hilft es sogar, CSU-Chef Horst Seehofer – ja, tatsächlich – beim Wort zu nehmen.

Eine öffentliche Demütigung Merkels

Im November 2015 trifft sich die CSU in München zu ihrem Parteitag. Die Kanzlerin kommt und hält eine Rede. Nicht ganz die Rede, die die Delegierten hören wollen. Sie macht keine Abstriche von ihrem Flüchtlingskurs. Dann kommt Seehofer. Eigentlich soll er nur einen knappen Dank abstatten, deswegen bleibt Merkel auch am Pult stehen, während Seehofer redet. Und redet. Und redet. Ein Grundsatzreferat. Merkel muss daneben stehen wie ein Schulmädchen, das die Belehrungen des Professors still zu ertragen hat. „Wir sind der Auffassung“, sagt Seehofer, dass die Zustimmung der Bevölkerung zur Bewältigung der Flüchtlingsthematik nicht auf Dauer zu haben ist, wenn wir nicht zu einer Obergrenze kommen.“ Der Saal klatscht. Seehofer schweigt. Jederzeit hätte er den demonstrativen Applaus stoppen können. Das tut er nicht. Er genießt ihn. Er will ihn. Und dann wird er ganz direkt: „Ich kann dir nur sagen“, spricht er Merkel an, „wir sehen uns bei diesem Thema wieder.“

Natürlich ist diese inszenierte Demütigung eine Retourkutsche. Seehofer wurde in der entscheidenden Nacht zum 5. September 2015 nicht gefragt, ob er mit der Grenzöffnung für die aus Ungarn kommenden Flüchtlinge einverstanden sei. Er war nicht erreichbar. Warum auch immer. Manche sagen, er wollte die Verantwortung nicht übernehmen. Als Ergebnis ist Seehofer nur Randfigur bei einer nun beginnenden Ereigniskette, die sein Bundesland massiv betrifft. Schlecht für einen Ministerpräsidenten, der nun wie ein Getriebener dasteht.

Seehofer hätte eine andere Erzählung entwerfen können

Seehofer hätte damals einen anderen Weg wählen, eine andere Erzählung entwerfen können: die von der tüchtigen bayerischen Verwaltung, die aus dem Stand heraus den Andrang der Ankommenden mit Fantasie, Einsatz und Organisationstalent meistert. Und die von einer Landesregierung, die in vorbildlicher Weise Mittel und Personal bereit stellt. Nichts an dieser Erzählung wäre falsch gewesen. Seehofer aber wählt anders. Er entscheidet sich für Konfrontation.

Der menschliche Faktor. Seit 2008 ist Seehofer bayerischer Ministerpräsident und Parteichef der CSU. 2016 ist er 67 Jahre alt. In der Partei gibt es Stimmen, die Erneuerung fordern. Nicht nur die Machtbasis der CSU ist bedroht, wenn die AfD den Wählerstamm anknabbert – auch der glorreiche Abgang, von dem Seehofer träumt. Er wählt den Weg militanten Widerstands. Anfang Januar 2016 nennt er zum ersten mal eine Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen pro Jahr. Er schickt einen Drohbrief ins Kanzleramt, der den Gang zum Verfassungsgericht ins Spiel bringt. Im Februar spricht er in einem Interview von der „Herrschaft des Unrechts“.

Die Wahlerfolge der AfD verändern alles

Nach den normalen Gesetzen politischer Gepflogenheit muss man irgendwann auch vom höchsten Baum wieder herunterklettern. Aber dann zieht am 13. März die AfD mit zweistelligen Ergebnissen in die Landtage von Stuttgart, Mainz und Magdeburg ein. Seehofer ist alarmiert: „Es geht um die Existenz“, sagt er. „Aus dem Sinkflug kann ein Absturz werden.“

Aber Merkel bewegt sich nicht. Nicht in Sachen Obergrenze. Tatsächlich aber hat das Abkommen mit der Türkei und die Schließung der Balkan-Route zu einem Abflauen der Flüchtlingszahlen geführt. Es wird etwas ruhiger. Auch weil die SPD mit Martin Schulz einen scheinbar starken Kanzlerkandidaten präsentiert. Die Union muss ihren ruinösen Streit beenden. Versöhnungstreffen mit der CDU im Sommer 2016 in Potsdam, dann im Januar in München. Im gemeinsamen Wahlprogramm kein Wort zur Obergrenze, nur im Bayernplan der CSU. „Wo Eintracht ist, da ist der Sieg“, sagt Seehofer tatsächlich. Aber der Wähler nimmt der Union diese inszenierte Einheit nicht ab. Der Wahlabend bringt für die CSU ein Desaster: 38, 8 Prozent der bayerischen Zweitstimmen, ein Minus von 10,5 Prozent – und die AfD bei 12,4 Prozent. Und 2018 stehen Landtagswahlen an. Seehofer steht vor einem Scherbenhaufen.

Wie ist das Ergebnis der Bundestagwahlen zu interpretieren?

Man könnte der Ansicht sein, dass die CSU für ihren Konfrontationskurs abgestraft wurde. Die sieht das nicht so. Und wieder muss – profilbildend – die Obergrenze her. In Vorsondierungen mit der CDU wird ein Richtwert von 200 000 Zuwanderern pro Jahr durchgesetzt. Seehofer verkauft das als Durchbruch, als seinen Erfolg. Es ist sein Strohhalm. An den klammert er sich auch in den Sondierungen. Verbissen. Vielleicht vergeblich.

Er will sich bald erklären: Tritt er als Ministerpräsident zurück? Das hätte eine bitter-ironische Seite. Letztlich wäre er auch an Flüchtlingsfrage gescheitert. Und sein Satz vom November 2015 wendete sich gegen ihn: „Ich kann dir nur sagen, wir sehen uns bei diesem Thema wieder.“