Dass die „Jamaikaner“ zunächst kein Ergebnis zustande gebracht haben, ist nervend und enttäuschend. Aber es besteht kein Anlass zur Häme, meint unser Kommentator Norbert Wallet.

Berlin - Nach stundenlangen, nächtelangen Verhandlungen noch immer keine Einigung. Die vier sehr unterschiedlichen Parteien, die seit Wochen zwar immer hinter verschlossenen Türen, aber doch auch immer ziemlich öffentlich, Sondierungsgespräche geführt haben, sind noch immer nicht zu einem abschließenden Ergebnis gekommen. Das ist nervend, vielleicht enttäuschend, aber es ist kein Anlass zur Häme.

 

Die Gespräche waren oft von einigem Spott darüber begleitet, dass diejenigen, die demnächst eine gemeinsame Regierung formen wollen, nur so äußerst mühsam Einvernehmen herstellen können. Ganz so als müsste eine durch ein kompliziertes Wahlergebnis herbeigezwungene Bündnisoption, die es noch nie auf Bundesebene gegeben hat, sozusagen auf Knopfdruck herstellbar sein. Das ist keine faire Sicht auf die Dinge. Kann es nämlich sein, dass diejenigen, die die gehemmten Annäherungsversuche so scharf kritisieren, dieselben sind, die sich in den Zeiten der großen Koalition so bitter über die angebliche Austauschbarkeit politischer Programme, über die Ununterscheidbarkeit von Politik, über die Berliner Konsens-Soße beschwert haben? Bitteschön - hier ist das Kontrastprogramm: In den Sondierungsrunden wird augenfällig, dass konservative, liberale und ökologische Grundkonzeptionen von vehementer Unterschiedlichkeit sein können.

Jede Seite muss Kröten schlucken

Die Parteien müssen weite Wege aufeinander zugehen. Jede Seite hat Kröten zu schlucken, Lieblingsprojekte zu beerdigen. Parteien sind riesige Kompromissmaschinen - intern und erst recht in der Debatte mit Mitkonkurrenten. Dieses Ringen um Kompromisse darf man nicht als die Suche nach „kleinsten gemeinsamen Nennern“ diskreditieren, denn das Ringen um gemeinsame Positionen wird ja stellvertretend für die gesamte Gesellschaft ausgetragen. Gerade darin liegen Würde und Wesen des demokratischen Prozesses. Dass in Zeiten, da die deutsche Gesellschaft so fragmentiert und gespalten ist wie vielleicht noch nie in der Nachkriegsgeschichte, ein Jamaika-Bündnis gelingt, ist eben alles andere als selbstverständlich.

Natürlich könnte man es einfacher haben können, wenn manche Positionen nicht wie ein Glaubensbekenntnis behandelt würde. Das gilt vor allem für die Themen Zuwanderung (CSU) und Klimaschutz (Grüne). Es wäre gut, würden die Unterhändler einsehen, dass in der Politik selten um Werte, sondern fast immer um geeignete Instrumente gerungen wird. Nüchternheit tut Not. Dass ein noch immer mögliches Jamaika-Bündnis von dieser Nüchternheit geprägt wäre, bedeutete deshalb keine Katastrophe, sondern wäre im Gegenteil ganz wohltuend. Digitalisierung vorantreiben, die Infrastruktur sanieren, den Klimawandel bekämpfen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Blick behalten - das könnte durchaus ausreichen für vier gemeinsame Jahre. Pragmatismus ist in Zeiten mit noch nie dagewesenen Herausforderungen eine sehr angemessene Tugend. Den Schwung und die Stimmung eines spannenden Aufbruchs haben die potenziellen Koalitionäre allerdings schon verspielt. Sie sollten es dennoch wagen. Neuwahlen würden nichts leichter machen, im Gegenteil.