Schon einmal hat Killer & Co. die verstörende Autobiografie eines Pianisten vorgestellt. Doch James Rhodes „Der Klang der Wut“ ist im Vergleich zu Andrei Gavrilovs Enthüllungen noch sehr viel bitterer: der Brite wurde als Kind jahrelang von seinem Sportlehrer vergewaltigt.

Lokales: Hans Jörg Wangner (hwe)

Stuttgart - Wenn ein Buch mit Fäkalsprache anfängt, dann kann das ein K.-o.-Kriterium sein: „Von klassischer Musik krieg ich ’n Ständer“, schreibt James Rhodes zu Beginn seiner Autobiografie „Der Klang der Wut“. Und auch wenn noch viele, viele Kraftausdrücke folgen, sollte man sich davon nicht abschrecken lassen. Denn Rhodes beschreibt zwei existenzielle Erfahrungen: seine Vergewaltigungen als Kind und seine Liebe zur Musik, die ihn am Leben hielt und am Ende zum Pianisten machte.

 

Aus guten Gründen schildert Rhodes nicht, was genau sein Sportlehrer mit ihm machte. Weder wollte er es seinen Lesern zumuten, noch sich selber. Und schon gar nicht wollte er, dass diese Stellen von entsprechend disponierten Perversen am Ende als Vorlagen missbraucht werden. Doch was daraus erwuchs, dass ihn der Mann nach einer abgrundtief fiesen Köderei jahrelang vergewaltigte, das beschreibt er sehr detailliert, in einem oft rotzigen, ruppigen Ton: extreme seelische Schäden, Alkohol- und Drogenexzesse, Psychiatrieerfahrungen wie aus dem Gruselfilm, dazu mehrere chirurgische Eingriffe, um das halbwegs wieder zu richten, was der Vergewaltiger zerstört hat.

Lebenslanger Horror

Das ist nichts für Zartbesaitete. Aber es schildert sehr anschaulich den lebenslangen Horror, der sich unter dem Oberbegriff „sexueller Missbrauch von Kindern“ verbirgt – nicht zuletzt im Blick auf die vielen Skandale, die immer wieder ruchbar werden. Mit am schlimmsten dabei: wenn den Opfern kein Glauben geschenkt wurde. Deshalb ist das Buch ein wichtiges Plädoyer gegen das Wegschauen.

Und ist es auch ein Plädoyer für die klassische Musik. Als Jugendlicher musikbesessen, kam Rhodes erst als Erwachsener wieder zum Klavier und wurde, was einem kleinen Wunder gleichkommt, zu einem Konzertpianisten, der zwar nicht die flinksten Finger hat (es gibt Erstsemester mit besserer Technik), dafür aber einen außergewöhnlichen Sinn für Klänge, Strukturen und Inhalte. Mit Verve plädiert Rhodes für eine (Wieder-)belebung der klassischen Musik, deren verkrustete Bräuche er heftig attackiert.

Gelungener Spagat

In den Passagen über Musik gelingt Rhodes ein schwieriger Spagat: er informiert den Laien und langweilt den informierten Musikfreund nicht mit Banalitäten. Jedem Kapitel ist eine Komposition vorangestellt, deren Hintergründe er erklärt und die im Internet nachgehört werden kann. Unter anderem das Werk, das ihm das Leben gerettet hat: die Chaconne von Johann Sebastian Bach in der Klavierfassung von Ferruccio Busoni.

Wie gesagt: der brillanteste Techniker ist der Pianist nicht, kein Vergleich etwa mit Andrei Gavrilov, der ja ebenfalls eine verstörende Autobiografie vorgelegt hat. Aber: perfekte Virtuosen waren Edwin Fischer und Alfred Cortot auch nicht, statt dessen aber ebenfalls Musiker, die etwas zu sagen hatten. Und vielleicht wird James Rhodes mit seiner ganzen Herangehensweise ja zu einem Wegbereiter für potenzielle Klassikfreunde. Verdient hätten es alle Beteiligten.