Was für eine Leistung: der amerikanische Bassist Charlie Haden hat den Free Jazz mit zur Welt gebracht und die Country-Musik bei Jazzhörern salonfähig gemacht, er hat die Weltmusik ebenso geliebt wie Barschnulzen. Am Freitag ist er im Alter von 76 Jahren gestorben.

Stuttgart - Schön wär’s, man könnte den jungen Charlie Haden nachträglich einen Bürgerschreck nennen. Aber dazu hätten die Bürger erstmal hinhören müssen bei seiner Musik, um sich überhaupt erschrecken zu lassen. Aber der amerikanische Bassist, der am Freitag im Alter von 76 Jahren an den Spätfolgen einer Polio-Erkrankung gestorben ist, spielte in den späten Fünfziger- und frühen Sechzigerjahren weit weg von den Ohren der Mehrheit. Er war ein Schreck für die Bürgerschrecke, einer, der zusammen mit dem Saxophonisten Ornette Coleman, dem Trompeter Don Cherry und den Drummern Billy Higgins und Ed Blackwell etwas in die Welt brachte, was bald Free Jazz heißen sollte.

 

„Die machen uns ja unsere Musik kaputt“, jappste da mancher mittelalte Jazzer, der zuvor noch selbst als Revoluzzer gegolten hatte. Und angesichts einer aufs erste Hören noch heute infernalisch dahergewitternden Aufnahme wie Colemans im Dezember 1960 LP „Free Jazz!“ bleibt verständlich, dass Unvorbereitete dachten, jetzt falle ihnen der Himmel auf den Kopf.

Die Befreiung des Basses

Für viele andere Aufnahmen von Coleman und Haden trifft das aber längst nicht mehr zu. Tracks wie „The Face of the Bass“ oder „Forerunner“, beide auf der 1959 eingespielten LP „Change of the Century“, mögen nicht auf Anhieb so mit- und nachsingbar sein wie die Lieder der Beatles. Aber auch ihnen ist anzumerken, dass sie einen neue Volksmusik sein wollen. Im Fall von Haden und Coleman eben eine für erwachsene Großstädter, die sich fragen, ob sich die moderne Welt bei ihrer Beschleunigung notwendig in ihre Einzelteile zerlegen muss oder ob sie nicht doch auf neue Art zusammehalten kann.

Haden arbeitete da auch an der Emanzipation des Basses, an der Befreiung seines Instruments von der Rolle, ein flexibler Sattelgurt zu sein, der die Solisten auf dem Pferd zu halten hatte. Unter Hadens Händen wurde der Bass ein gleichberechtigtes Instrument, das Stimmung, Richtung, Kapriolen jeden Stückes selbstverständlich mitbestimmt. Was in Hadens zahlreichen Aufnahmen mit dem Pianisten Keith Jarrett und dem Gitarristen Pat Metheny ganz selbstverständlich klingt, was unser Verständnis vom Aufeinanderhören im modernen Jazz definiert, das hat dieser Bassist erst mit entwickelt.

Kann sich Free Jazz mit Country vertragen?

Haden, der 1937 im Kaff Shenandoah in Iowa zur Welt kam, stammte aus einer musikalischen Familie. Als Haden Family Band traten Eltern und Geschwister mit Country-Musik regelmäßig im Radio auf, und Charlie war schon im Alter von zwei Jahren mit von der Partie. Zunächst war er Sänger, aber ein Polio-Ausbruch im Alter von 15 Jahren zerstörte unter anderem Hadens Fähigkeit, seine Singstimme zu kontrollieren. Die Hinwendung zum Bass und zum Jazz, das Betreten von Neuland zusammen mit Coleman bedeutete aber keine Abwendung von Country, Folk und anderer Roots-Musik.

Je älter Haden wurde, desto offener schien sein Geschmack zu werden. Schon sein Liberation Music Orchestra debütierte 1969 mit einem schlicht den Bandnamen tragenden Album, das freien Jazz mit der Musik des spanischen Bürgerkriegs verknüpfte. Niemals hat Haden eine qualitative Trennung zwischen offenen, hochkomplexen, frei improvisierten Formen und geschlossener, komponierter, gut fassbarer Liedtradition akzeptiert.

Zelebrieren, nicht zerlegen

Und so hat der dreifache Grammy-Gewinner denn mit Kollegen unterschiedlichsten musikalischen Hintergrunds und Temperaments gespielt, etwa mit dem brasilianischen Multi-Instrumentalisten Egberto Gismonti, dem kubanischen Pianisten Gonzalo Rubalcaba, dem portugiesischen Gitarristen Carlos Paredes und dem argentinischen Bandoneonmeister Dino Saluzzi.

Er hat mit dem Pianisten Hank Jones auf Spirituals und Gospels zelebriert, nicht zerlegt, und hat auf „The Art of the Song“ mit den Gästen Shirley Horn und Bill Henderson ironiefrei der Tradition des fast schwülstig romantischen Nachtclubsongs gehuldigt. Wer sich durch das Werk von Charlie Haden hört, unternimmt eine Reise quer durch die Musik.

Auf „Beyond the Missouri Sky“, einem 1997 veröffentlichten Duo-Album mit Pat Metheny, stehen Ennio Morricones Titelmelodie zum Film „Cinema Paradiso“ neben dem Oldie „The Precious Jewel“ aus dem Fundus von Country-Legende Roy Acuff, Henry Mancinis „Two for the Road“ und etlichen Eigenkompositionen.

Musik als Bekenntnis zur Menschlichkeit

In Charlie Hadens Welt wird nichts verworfen, nichts abgetan, eine Haltung, die sich bis in die Spielweise des Instruments fortsetzt. Immer bedächtiger hat Haden gezupft, mit immer weniger Noten gearbeitet, der Einzelton und seine Schattierungen sollten, und sei es im Hintergrund, zur Wirkung kommen. Er hat das aber nie als falsche Gemütlichkeit angeboten.

Haden, der im Südafrika der Diktatur und im Portugal der Militärdiktatur seiner offenen Bekenntnisse zu Menschenrechten wegen verhaftet worden war, hat seine Musik stets als politische Stellungnahme begriffen. „Wenn du ein empfindungsfähiger Mensch bist und all die unmenschlichen Dinge siehst, die überall rings um dich her passieren, dann musst Du die Stimme erheben und etwas dagegen tun... Es liegt an uns, das Leben auf diesem Planeten besser zu machen.“