Große Jazzer improvisieren gerne mal exzentrisch. Solche verschlungenen Melodielinien hat der afroamerikanische Sänger Jon Hendricks betextet und nachgesungen. Das tat er mit solchem Witz, dass daraus in den 50ern und 60ern Hits wurden. Nun ist er im Alter von 96 Jahren gestorben.

Stuttgart - Es gibt wohl wenige Menschen, die dem Anfang dieses Jahres verstorbenen Vokalvirtuosen Al Jarreau nachsagen würden, nichts von Jazz verstanden zu haben. Dass Al Jarreau Jon Hendricks den größten aller Jazzsänger genannt hat, ist also ein gewichtiges Kompliment. Gemeint war damit aber nicht ein einzelner technischer Aspekt von Hendricks Arbeit, sondern der pure Erfindungsreichtum, der kreative Witz, die furchtlose Frische des 1921 in Newark, Ohio, geborenen Hendricks. Als der nach dem Zweiten Weltkrieg eine Gesangskarriere begann, hörte das große Publikum gern die emotionalen, oft pfiffigen, nahe an den notierten Noten bleibenden Liedinterpretationen von Sängern wie Frank Sinatra und Bing Crosby. Kleine Hipsterkreise aber fuhren in den Jazzkellern auf die neue Schule des Vocalese ab, auf oft nur aus Scatlauten bestehende Gesangsvarianten von Jazzsoli großer Instrumentalisten.

 

Hendricks griff dieses Avantgardespäßchen auf, schliff und polierte es und machte es in einem Trio mit Annie Ross und Dave Lambert populär, ohne es zu verflachen. Das 1957 gegründete Trio Lambert, Hendricks und Ross wäre schon deshalb erinnernswert, weil hier zwei Weiße nicht nur völlig gleichberechtigt mit dem Afroamerikaner Hendricks auftraten, sondern der sichtlich musikalischer Kopf des Unternehmens war. Aber was die Band an Aufnahmen vorlegte, „Sing a Song of Basie“ (1957) etwa oder „The Swingers“, wirkt noch heute infektiös lebenslustig und beglückend schlau.

Sehen Sie hier eine Aufnahme aus dem Jahr 1961 vom Jazzfestival in Antibes:

Große Jazzsoli leben von überraschenden Wendungen und auch exzentrischen Einfällen, dürfen wilde Kontraste auffahren und mit einer Notendichte berauschen, die Komponisten Sängern nicht zumuten würden. Für diese gewundenen Melodielinien sinnige Texte dichten zu können, war ein Teil des Genies von Jon Hendricks, der andere bestand darin, das Ergebnis stolperfrei swingend vorzutragen und das Singen etwa von Saxofonlinien nie verkrampft klingen zu lassen. Hendricks hat später auch als Solokünstler mit seinem Humor das Publikum um den Finger gewickelt und mit seinem Wagemut die Kollegen beeindruckt. Am 22. November ist er im Alter von 96 Jahren in Manhattan gestorben. Noch dieses Jahr hat er sich angehört, wie das London Vocal Project seine Vocalese-Umsetzung des Miles-Davis-Albums „Miles Ahead“ in Konzertsäle brachte. Er war ungebrochen: „Schnallt Euch an, jetzt geht’s los“ schrieb der alte Herr 2010 in der Vorbereitungszeit an die jungen Vokalisten.