Noch nie waren sie so wertvoll wie heute. Die Oster-Jazztage im Stuttgarter Theaterhaus haben Konzerte auf der Höhe der Zeit präsentiert – eine Bilanz.

Stuttgart - Um einmal die Neue Frankfurter Schule zu bemühen: „Der Dichter, der Dichter, der kriegt eins auf die Lichter!“ Sein „The Harlem Hights String Quartet Nr. 1 op 35 für Streichquartett und Bass“ hat Gregor Hübner zwar nicht wie Günter Grass „mit letzter Tinte“, dafür aber aus konkreter Anschauung des Lebens in der multikulturellen Metropole New York heraus komponiert. Inspiriert durch zwei aus dem Iran stammende Schüler bezieht sich Hübner auf die Metrik persischer Folklore, um dann ein jüdisches Lied mit dem schönen Titel „Shalom“ in die Mitte zu betten – eine kleine musikalische Utopie der friedlichen Koexistenz, dargeboten am frühen Ostersonntagabend vom New Yorker Sirius Quartet und Hübners Bruder Veit am Bass – und vielleicht auch der gebotene Kommentar zur etwas gespenstischen Osterdebatte 2012.

 

Vor den Internationalen Theaterhaus-Jazztagen in Stuttgart hatte der gleichfalls in New York lebende Pianist Uri Caine im Gespräch darüber nachgedacht, inwieweit die höchst ausdifferenzierte Klanglandschaft, die aktuell noch unter „Jazz“ firmiert, vielleicht einmal ein neues Label bräuchte. Eine Antwort steht zwar aus, aber die Konzerte in der Halle T2 am Ostersonntag machten die Frage besonders für Puristen virulent. So zauberte sich Uri Caine in einem konzisen Soloauftritt von Bach über Scott Joplin und Duke Ellington zu Mozart. Und von Mozart und Monk war es dann nur noch eine kurze, virtuose Drift, um unweigerlich beim sanften „Blackbird“ von den Beatles zu landen.

Inwieweit eine auf der Höhe der Zeit auskomponierte Komposition für Streichquartett und Klavier wie Caines im Theaterhaus uraufgeführte Komposition „String Theories“ – angesiedelt irgendwo zwischen Post-Webern und Morton Feldman, Näheres mögen die Kollegen von der E-Musik befinden – noch auf ein Jazzfestival gehört, mag die sogenannte Jazzpolizei diskutieren. Immerhin sind sich die Musiker im Club von John Zorn begegnet, der bekanntlich auch mit Kammermusik experimentiert und diese zudem als „radical jewish music“ präsentiert. Womit sich ein weiterer Kreis schließt. Einen interessanten Akzent innerhalb eines Festivalprogramms setzt ein solches Konzert, kaum noch als Crossover zu bezeichnen, allemal.

Der Höhepunkt: Nik Bärtschs Ronin

Wer es swingender und boppender, aber mindestens so avanciert im Umgang mit Bartók und Strawinski haben wollte, wurde bei Richie Beirach am Freitag bestens bedient, wo der Violinist Gregor Hübner im jazzigeren Kontext glänzte, als er sich vor Zbigniew Seifert verbeugte. Oder zuvor bei den sehr erfrischenden Klangcollagen des vielköpfigen OrchesterJazz@Large, die das Festival um einen hochinteressanten Werkstattakzent bereicherte. Man jammt nicht vor und für sich hin, sondern man komponiert – wie etwa der Trompeter Herbert Joos – für einen so enthusiastischen wie voluminösen Klangkörper, den man im Alltag niemals finanziert bekäme.

Auch das audiovisuelle Gesamtkunstwerk des Festivals fragte: „Ist das noch Jazz?“ 2007 waren Nik Bärtschs Ronin schon einmal im Theaterhaus zu Gast beim legendären Jazz-Länderspiel Deutschland – Schweiz. Mittlerweile, so Bärtsch in einer kurzen Zwischenmoderation, seien Musiker und Band „gereift“ – und wer sich an Bärtschs Linernotes zum „Stoa“-Album erinnerte, durfte dies als Versprechen auf einen famosen Abend nehmen. Damals schrieb Bärtsch: „Eine Band soll zum integralen Organismus reifen – dann lebt sie wie ein Tier, ein Biotop, ein urbaner Raum. Sie bringt Obertonblumen hervor, Ghostnotes, Schatten von Klängen, perspektivische Fluchten.“ Sofern nicht auf Tour, spielen Ronin an jedem Montagabend im „Exil“-Club in Zürich – die stete Livepraxis hat die Band, die sich in ihren rhythmisch komplexen Kompositionen gerne so instinktiv wie ein Fischschwarm bewegt, auf neue Plateaus befördert.

Verglichen mit dem epochalen Konzert im Rahmen von „Enjoy Jazz“ vor zwei Jahren, als das Quintett wie eine Naturgewalt über das Publikum hereinbrach und die Alte Feuerwache Mannheim in ihren Grundfesten erschütterte, spielten Ronin im Theaterhaus mit angezogener Handbremse, was eine Qualität ist: die Band verfügt über die Mittel, flexibel auf die Tagesstimmung zu reagieren, ohne das Konzept aufzubrechen. Mit einem untrüglichen Gespür für die Bedeutung des Sounds spielen Ronin wie eine Dub-Band mit der kompletten Dynamik zwischen Stille und Noise, lassen die Musik auch mal minutenlang repetitiv und trancehaft auf der Stelle treten, bevor der nächste Schub Intensität folgt.

Auch junges Publikum kommt

Insbesondere, wenn man den Auftritt von Ronin mit dem Auftritt des Jasper van’t Hof Quartet am Freitag vergleicht, tun sich Welten auf. Gewiss sind van’t Hof am Klavier, Harry Sokal am Saxofon, Fredy Studer am Schlagzeug und Stefan Neldner am Bass allesamt Virtuosen, aber die Musik der vier Herren war selbstgenügsames und letztlich ziemlich einfallsloses Powerplay, dessen Notwendigkeit sich zu keinem Zeitpunkt vermittelte. Bei Ronin hingegen ordnet jeder Musiker sich dem Konzept der Band unter: Man wirkt als Einheit, verstärkt noch durch ein sorgfältig austariertes und stimmiges Sound- und Lichtdesign, wie man es sonst in dieser Perfektion nur noch von e.s.t. und vom aktuellen Nils Molvaer Trio geboten bekam oder bekommt. Die Musik von Ronin spielt mit Folklorismen und Ritualmusik und erinnert an manche Bands der frühen siebziger Jahre wie Soft Machine oder Nucleus, die gerade nicht oder erst später in die Falle der bloß virtuosen und individualistischen Schneller-Höher-Weiter-Fusion liefen. Gerade die durchdachte Art der Präsentation macht diese Musik für ein jüngeres Publikum wieder interessant.

Mit 4000 Besuchern waren die Theaterhaus Jazztage 2012, die gestern mit einem „Band of Gypsies“-Abend ausklangen, sehr gut besucht. 2011 waren es noch 3000 Besucher – der signifikante Zuwachs mag auch mit dem Wetter und einer pfiffigen Programmgestaltung, die Pop und Party explizit nicht ausschloss, zu tun gehabt haben. Aber so inspirierten und geschichtsbewussten Jazz wie in diesem Jahr gab es auf dem Stuttgarter Pragsattel schon lange nicht mehr zu hören.