Der ehemalige Skispringer Jens Weißflog spricht zum 60. Jubiläum der Vierschanzentournee über Rivalen, Neuerungen und die Hektik.

Stuttgart - Jens Weißflog (47) ist einer der Skispringer, die die Vierschanzentournee am stärksten geprägt haben. Auch der viermalige Sieger aus Oberwiesenthal kann sich dem Mythos nicht entziehen.

 

Herr Weißflog, Sie und die Vierschanzentournee - das war doch eher Liebe auf den zweiten Blick.

Wieso?

Ihr erstes Tournee-Erlebnis hätte kaum schlechter sein können: 1980/81 wurden Sie 110. der Gesamtwertung.

Ach nein, damals war ich ja auch nur bei zwei Springen am Start. Und zu der Zeit - im Alter von 16 Jahren - war ich froh, überhaupt das erste Mal dabei sein zu können.

Später konnten Sie sich über viele Erfolge freuen. Was bedeutet Ihnen die Tournee?

Das war immer einer der sportlichen Höhepunkte. Denn es ist kein normales Springen. Die Tournee ragt auf jeden Fall heraus - vor allem durch die Tradition und die spezielle Gesamtwertung der vier Wettkämpfe. Es gibt viele besondere Erlebnisse, die ich nie vergessen werde: So kam zu DDR-Zeiten der Skiclub Partenkirchen an Silvester immer zu unserer Mannschaft und hat uns einen Fußball geschenkt, weil sie wussten, dass wir so gerne kicken.

Sie haben die Tourneegeschichte sehr geprägt: mit zehn Tagessiegen sind Sie Rekordhalter. Sie sind der Einzige, der die Gesamtwertung im Parallel-Sprungstil und im V-Stil gewonnen hat. Sie waren der Erste, der viermal siegte. Welche Bedeutung haben Sie für die Tournee?

(lange Pause) Das sollen gerne andere beurteilen. Es ist immer schwer, selbst darüber zu sprechen. Das können und dürfen lieber andere übernehmen.

Die Tournee feiert nun ihr 60. Jubiläum. Was macht ihre Faszination aus?

Der Mythos hängt vor allem mit der besonderen Jahreszeit zusammen. Um den Jahreswechsel herum haben viele Menschen frei und verfolgen dann speziell das Neujahrspringen. An dieses Springen können sich die meisten Leute erinnern, auch wenn sie sonst nichts mit Skispringen zu tun haben. Aber wenn sie am Tag nach Silvester - vielleicht noch nicht ganz wieder bei der Sache - nach dem Mittagessen auf dem Sofa sitzen, schauen Sie sich eben Skispringen an.

Was sind Ihre ersten Erinnerungen an die Vierschanzentournee?

Ich habe sie als Kind schon mit meinen Eltern im Fernsehen gesehen - denn damals hat auch jemand aus der Nähe meines Heimatortes, Manfred Queck aus Johanngeorgenstadt, daran teilgenommen. Das war mein Held und Vorbild. Später habe ich auch Hans-Georg Aschenbach und Jochen Danneberg nachgeeifert.

Die unvergesslichsten Tourneemomente

Welche Tourneemomente als Athlet werden Sie nie vergessen?

Ich erinnere mich noch ganz besonders an meine erste Vierschanzentournee. Anfang der Achtziger mit 16 Jahren dabei zu sein, war wirklich etwas Besonderes. Kurz vorher gab es auch noch eine Regeländerung, wonach die unter den Schuhen am Ski befestigten Teile verkleinert werden mussten. Da wurden dann in einer Nacht-und-Nebel-Aktion neue Keile auf die Ski geschraubt. Als junger Mensch war ich mit diesem völlig neuen Gefühl in der Anfahrt einfach überfordert. Und ich war eh schon so aufgeregt, teilweise habe ich vergessen, oben auf der Schanze die Brille vom Helm herunterzunehmen und aufzusetzen - das habe ich dann noch in der Anlaufspur gemacht.

Zwei Jahre später haben Sie in Bischofshofen bereits Ihr erstes Springen gewonnen.

Diese erste erfolgreiche Tournee 1982/83 war sehr prägend, das war mein Sprung an die Weltspitze. Plötzlich standen neben mir auf dem Podest Athleten, von denen ich nie gedacht hatte, dass ich sie mal schlagen kann. Zum Beispiel Matti Nykänen. Ich kannte ihn ja von der Junioren-WM 1981 und dann wurde er ein Jahr später Weltmeister bei den Großen, bei den Erwachsenen. Ich hatte mich immer an ihm gemessen, weil er ja fast gleichaltrig war. Nykänen war für mich eine Art Vorbild.

Ihre Duelle mit dem Finnen haben lange die Tournee bestimmt.

Das war eine ganz gesunde Rivalität. Wir konnten uns neben der Schanze ja nicht unterhalten. Auch in Englisch war es schwierig. Wir haben uns quasi mit Blicken verständigt. Er war ein besonderer Konkurrent. Denn wir haben auch beide akzeptiert und honoriert, wenn der andere besser war. Ich erinnere mich an eine gemeinsame Dopingkontrolle 1984 - da gab es noch Bier zu trinken. Und es war eine richtig schöne Feier direkt nach dem Springen. Wir saßen in einem winzigen Raum, vielleicht 1,50 Meter mal 1,50 Meter groß, ein totales Kabuff. Aber es war sehr lustig.

Wie haben Sie den Trubel abseits der Schanzen wahrgenommen?

Für die Erfolgreichen ist es natürlich am stressigsten. Wir hatten ja nach den Springen keine Ruhe. Wir mussten Interviews geben, mussten zur Pressekonferenz und zur Dopingkontrolle. Früher sind wir Athleten ja noch mannschaftsübergreifend gereist - meistens saß der Ostblock in einem Bus - und ich war fast immer der Letzte. Oft haben meine Teamkollegen meine Sachen zusammengepackt, weil ich noch unterwegs war, aber der Bus schon gewartet hat. Es herrschte also immer viel Hektik.

Auch von Seiten der Fans?

Bei meiner ersten Tournee sind mir die Leute noch sehr vorsichtig begegnet - denn im DDR-Trainingsanzug wussten sie bei mir sofort, wo ich herkomme. Sie haben mich dann angesprochen und gefragt: Dürfen Sie mit uns reden? Oder nach meinem ersten Gesamtsieg: da bin ich in Bischofshofen mit dem Pokal zu Fuß zurück zum Hotel gelaufen. Gemeinsam mit den Zuschauern, die dann immer gefragt haben, ob sie mal den Pokal anfassen dürfen. Das wäre heute ja undenkbar. Jetzt kommen die Leute kaum mehr an die Athleten heran.

Während der Hochphase der deutsch-österreichischen Rivalität war die Zuschauernähe sicher nicht nur angenehm?

Das stimmt, die Konkurrenz war gnadenlos. Bis zu meiner Zeit war es gang und gäbe, dass die österreichischen Zuschauer mich beim Springen ausgepfiffen haben. Wenn ich in Innsbruck und Bischofshofen am Publikum vorbeigegangen bin, musste ich mir schon einiges anhören. Das hat sich mittlerweile aber beruhigt.

Welche Veränderungen sind für Sie außerdem sehr prägend gewesen?

Bei meinen ersten Tourneewettkämpfen gab es früher mehr als 100 Starter, und die Wettbewerbe dauerten mehr als fünf Stunden. Das hat sich unglaublich lang hingezogen. Heute ist alles viel professioneller und auch schöner geworden. Früher haben wir uns im Auto umgezogen. Wenn es zehn Grad minus waren oder wenn es geregnet hat - das war egal. Wir sind im Schlamm rumgelatscht. Draußen standen die Zuschauer um das Auto herum.

Der emotionalste Sieg

Welcher Ihrer vielen Siege war für Sie der emotionalste?

Der vierte Gesamtsieg 1996, er hatte einfach seine spezielle Vorgeschichte. Ich wollte ja eigentlich schon 1994, als ich die Chance verpasst hatte, zum vierten Mal zu gewinnen, meine Karriere beenden. Ich habe dann doch weitergemacht und zwei Jahre später habe ich mich so sehr über den Erfolg gefreut, weil ich überhaupt noch einmal die Chance auf den Gesamtsieg bekommen habe. Und vor allem: weil das Gerede um diesen möglichen vierten historischen Sieg beendet war. Vor jeder Tournee gab es ja die Erwartungshaltung: wird er es jetzt endlich zum vierten Mal schaffen? Dazu muss ich übrigens sagen: wenn ich alle Möglichkeiten, die mir geboten wurden, genutzt hätte - ich hätte siebenmal die Tournee gewonnen. Denn ich habe ja auch weitere dreimal vor dem letzten Springen in Bischofshofen geführt.

Wie haben Sie Ihren Erfolg 1996 bei Ihrer letzten Tournee erlebt?

Ich hatte ja zuvor schon im September 1995 bewusst meinen definitiven Rücktritt nach der Saison verkündet. An die letzte Tournee bin ich dann mit null Erwartungen herangegangen. Die Springen vorher waren total durchwachsen, ich hatte direkt vor der Tournee noch einen Magen-Darm-Infekt. Eigentlich wollte ich meine letzte Tournee einfach nur genießen. Ich wollte sie mit einer guten Stimmung beenden, egal wie sie ausgeht. Dass es dann so positiv lief, hatte auch mit vielen Zufällen zu tun. So ist der große finnische Favorit Mika Laitinen damals in Garmisch-Partenkirchen so schwer gestürzt, dass er aus der Gesamtwertung gefallen ist. Ich weiß nicht, ob ich sonst die Vierschanzentournee zum vierten Mal gewonnen hätte.

Nach Ihrer aktiven Karriere haben Sie die Tournee als Fernsehexperte begleitet. In dieser Zeit kam es zu vielen Änderungen: der K.-o.-Modus wurde in der Saison 1996/97 eingeführt, dann folgte das Flutlichtspringen und mehr Unterbrechungen im Wettkampf, auch weil der damals übertragende Privatsender RTL mehr Werbung zeigen wollte. Was halten Sie davon?

Das sind ganz normale Neuerungen. Von vielen Sportarten wird gefordert, fernsehgerechter zu werden. Ob es für die Fans interessanter wird, ist eine andere Frage. In gewissem Maß hat sich die Tournee doch einfach der heutigen Zeit angepasst. Manches baut zusätzlich auch eine gewisse Spannung auf. Überhaupt hat es das Skispringen immer geschafft, mit den aktuellen Entwicklungen am Ball zu bleiben - eben auch im Bezug auf die Zuschauer und die Medien. Wenn ich meine erste erfolgreiche Tournee 1982 und meine letzte 1996 vergleiche, hatte sich, was die Medien betrifft, so viel verändert. 1996 bin ich keinen Schritt ohne Kameras gegangen.

Noch extremer war es 2001/2002 für Sven Hannawald. Sein bis jetzt einmaliger Vierfachsieg ragt natürlich auch in der Tourneegeschichte heraus.

Daran sieht man, wie schwierig es ist, alle vier Springen nacheinander zu gewinnen. Es waren ja einige nah dran. Aber Sven Hannawalds Ergebnis überstrahlt vieles. In einigen Jahren wird wahrscheinlich kaum jemand wissen, wie oft Jens Weißflog die Tournee gewonnen hat, aber viele werden Hannawald noch immer mit seinem Erfolg in Verbindung bringen. Damit gehört er zu den wichtigsten Figuren der Tournee. Zusammen mit den Pionieren Helmut Recknagel und Bjorn Wirkola, der ja dreimal nacheinander gewann, und mit Janne Ahonen - dem Sieger schlechthin.

2008 hat der Finne Ahonen auch Ihren Rekord von vier Gesamtsiegen mit seinem fünften Erfolg überboten.

Natürlich wäre ich gerne länger vorne gewesen. Aber ich bin da realistisch. Rekorde unterliegen im Sport eben einer gewissen Halbwertzeit. Meiner hat zehn Jahre gehalten, das ist völlig in Ordnung.

Wie schätzen Sie nun bei der 60. Auflage die Chancen der deutschen Springer Richard Freitag und Severin Freund ein?

Man kann nur hoffen, dass es bei beiden so wie in dieser Saison weitergeht. Wenn das passiert, können viele Wünsche in Erfüllung gehen. Ich will gar nicht mit dem Gewinn der Gesamtwertung spekulieren. Aber beide können positive Ergebnisse erzielen. Das Podest ist für sie möglich.

Können dann beide auch einen ähnlichen Hype auslösen wie Sie oder Hannawald?

Natürlich ist es schwer für sie, denn sie stehen noch immer im Schatten der früheren deutschen Erfolge. Doch ihr Anspruch sollte es sein, ganz oben mitzumischen. Deutschland muss immer eine gewichtige Rolle bei der Tournee spielen. Das ist existenziell. Um die Begeisterung aber endgültig anzuheizen, müsste wieder ein deutscher Gesamtsieg her.

Olympiasieger und Hotelier

Skispringer: Jens Weißflog, 1964 in Erlabrunn in der früheren DDR geboren, ist der erfolgreichste deutsche Skispringer. Er gewann dreimal Olympiagold, viermal die Tournee und wurde dreimal Weltmeister. Er beendete 1996 seine Karriere.

TV-Experte: Nach 15 Jahren ist Weißflog seit dieser Saison nicht mehr ZDF-Experte. Dort steht nun der Österreicher Toni Innauer am Mikrofon. "Ich hätte gerne weitergemacht – andererseits war nur Günter Netzer so lange Fernsehexperte." In Oberwiesenthal führt er ein Hotel.