An diesem Donnerstag beginnen in Stuttgart die Dragon Days. Bei dem Festival für fantastische Literatur wird der britische Autor Joe Abercrombie mit dem Schwäbischen Lindwurm ausgezeichnet. Ein Porträt des Erzählers der „First-Law“-Trilogie.

Stuttgart - Helden haben heutzutage einen schweren Stand: Die globalen Verhältnisse sind unübersichtlich geworden, und die Zahl gegenläufiger Weltdeutungen hat sich vervielfacht, weswegen sich oft kaum noch entscheiden lässt, was ein Akt unerschrockener Tapferkeit und was nur realitätsfremde Dummheit ist. Manche Zeitdiagnostiker sprechen deshalb gar von einer Krise des Heroischen, die die modernen Gesellschaften ergriffen haben soll. Dass aber selbst in der Fantasyliteratur, die traditionell von strahlenden Rittern auf der einen und Repräsentanten des absoluten Bösen auf der anderen Seite erzählt, längst eine Heldendämmerung eingesetzt hat, ist trotzdem erstaunlich.

 

Diese Entwicklung ist auf eine Reihe von Autoren zurückzuführen, die in den vergangenen Jahren ausgezogen sind, das Genre, das lange im Schatten von J. R. R. Tolkiens alles überragendem „Herr der Ringe“-Epos stand, umzukrempeln. Zu ihnen zählt Joe Abercrombie, vor vierzig Jahren im englischen Lancaster geboren und als Erzähler berühmt geworden durch seine „First-Law“-Trilogie.

Realismus in der Fantastik

Für stereotype Storys von edlen Rittern und bösen Zauberern hat Abercrombie nur wenig übrig. „Ich habe einfach schon viel zu viele solcher Geschichten gelesen“, sagt er. Zudem sei das wirkliche Leben nur selten einfach gestrickt: „In der Realität haben wir es doch oft eher mit Grautönen zu tun, mit Leuten also, die weder vollständig gut noch vollständig schlecht sind.“

Der Anspruch, mehr Realismus in die Fantastik zu bringen, ist den Geschichten des Briten deutlich anzumerken. Für seinen ersten Roman „The Blade itself“ – auf Deutsch 2007 im Heyne Verlag unter dem Titel „Kriegsklingen“ erschienen – hat sich Abercrombie einen Protagonisten ausgedacht, der an Robert E. Howards Conan erinnert: „The Blade itself“ erzählt vom Schicksal eines grobschlächtigen Typen namens Logen Neunfinger, seines Zeichens Barbar wie Conan und auf eine Vita zurückblickend, die es streng genommen erlaubt, ihn als Massenmörder zu bezeichnen. Trotzdem fesselt Logens Schicksal den Leser: Abercrombie zeichnet diese Figur so facettenreich, dass auch die sympathischen Züge dieses Kerls aufscheinen.

Psychologie als Nervenkitzel

Logen Neunfinger lebt in einer Welt, in der trotz des martialischen Settings kein Platz für hohles Pathos ist; stattdessen dominiert ein launiger Tonfall die Erzählung. Was wiederum wohl auch in Abercrombies eher sarkastischem Naturell begründet liegt. Als er kürzlich bei einem Internet-Ranking der besten Fantasyautoren aller Zeiten hinter Tolkien und George R. R. Martin auf dem vierten Rang landete, twitterte er: „Nur Platz vier? Was zur Hölle haben denn Tolkien und Martin jemals für unser Genre getan?“

Auch im Interview macht der Brite einen überaus smarten Eindruck. Warum er ausgerechnet Psychologie studiert habe? „Nun, ich war auf einer sehr traditionalistischen Schule“, erzählt er. „Tatsächlich herrschten dort so konservative Ansichten, dass man selbst Erdkunde für ein neues und tendenziell gefährliches Fach hielt.“ In einer solchen Bildungseinrichtung sozialisiert erschien Abercrombie ein Psychologiestudium als ein geradezu ungeheuren Nervenkitzel verheißendes Unterfangen.

Komplexe Handlungsstränge

Doch das entpuppte sich als Irrglaube. Staubtrocken war der Stoff, der ihm im Hörsaal der Universität Manchester vermittelt wurde. Abercrombie entschied sich nach dem Studium gegen den Beruf des Psychotherapeuten, zog nach London und arbeitete freischaffend in der Fernsehbranche, wo er an der Produktion diverser TV-Shows mitwirkte. Daneben hatte er ausreichend Freizeit, seinen ersten Roman „The Blade itself“ fertig zu stellen.

Tatsächlich war dieses Buch bereits Abercrombies zweiter Versuch, die Abenteuergeschichte von Logen Neunfinger zu erzählen. Einige Jahre zuvor hatte er sich schon einmal an den Schreibtisch gesetzt und mit der Arbeit begonnen. „Das allerdings, was dabei herauskam, war ziemlich abgedroschen“, sagt Abercrombie. „Ich denke, ich musste erst lernen, mich selbst als Autor deutlich weniger ernst zu nehmen.“ Zudem hatte er in der Zwischenzeit George R. R. Martins „Lied von Eis und Feuer“ gelesen, den ultimativen Beweis dafür, dass auch in der   fantastischen Literatur nuancierte Charaktere und komplexe Handlungsstränge möglich sind. Martin sei „definitiv eine große Inspiration“ für ihn gewesen, sagt Abercrombie.

Irgendetwas mit Würsten und Bier

So wurde der zweite Versuch, sich als Erzähler zu behaupten, schließlich ein Erfolg. Abercrombie fand einen Verlag und veröffentlichte 2007 „The Blade itself“ in England. Die beiden folgenden Bücher der „First-Law“-Trilogie folgten schon 2008 und 2009, und auch danach erwies sich der Brite als fast schon erschreckend produktiv. Nicht umsonst wird Abercrombie, der zusammen mit seiner Frau und drei Kindern mittlerweile in der Nähe von Bristol lebt, auf der Website seines englischen Verlags als „obsessiver Workaholic“ bezeichnet: Fast jedes Jahr veröffentlichte er ein neues Werk, sein neuester Titel „Half a War“ – Abschluss einer weiteren Romantrilogie, die sich an jüngere Leser richtet – wird diesen Juli auf Englisch erscheinen.

Für Abercrombie – übrigens ein passionierter Computerspieler – ist der Auftritt bei den Dragon Days, wo er für seine „First-Law“-Trilogie ausgezeichnet wird, sein erster Besuch in Stuttgart und seine erst zweite Deutschlandreise überhaupt. Welche Vorstellungen er davon hat, was ihn hier erwartet? „Ich vermute irgendetwas, das mit Würsten und Bier zu tun hat“, entgegnet er und lacht. Ganz ohne Stereotype geht es wohl nicht. Die mögen zwar nicht besonders interessant sein, machen aber die Welt doch zumindest ein bisschen übersichtlicher.