Budapest-Düsseldorf-Göteborg-Bremen-Stuttgart: die weite Lebensreise des früheren baden-württembergischen Landesrabbiners Joel Berger.

Stuttgart - Man kann seine Lebensgeschichte als Kreis erzählen, der sich schließt. Das heißt, Joel Berger selbst vermag das am besten, denn erzählen kann er so gut, dass man ihm kaum ins Handwerk pfuschen möchte.

 

Stuttgart, sagt der 75-Jährige, sei seit seiner Kindheit in Budapest eine feste Größe auf der inneren Landkarte. „Meine selige Mutter war bis Ende 1938 Chefsekretärin bei der ungarischen Filiale der Mercedes Benz AG. Stuttgart-Untertürkheim war einer der ersten deutschen Begriffe, die ich lernte. Immer, wenn ein Telefonat von dort kam, mussten alle ganz still sein.“

Seine Worte in perfektem Deutsch mit leichtem östlichen Akzent klingen wie Gesang, man kann sich gut vorstellen, dass ihm die Gläubigen in der Synagoge während seiner langen Zeit als Rabbiner gebannt zugehört haben. Auch im Rundfunk, wo er seit vielen Jahren „Das jüdische Wort in den Tag“ spricht, fasziniert diese Stimme. Sie strahlt große Ruhe aus, was, wie Joel Berger lächelnd eingesteht, nicht immer seiner inneren Verfassung entspreche.

Immer noch holten ihn seine Erlebnisse aus den ersten dreißig Lebensjahren ein. „Meine Frau Noemi“ – sie stammt aus einer berühmten Rabbinerfamilie, hat Judaistik studiert, ist die Mutter der beiden erwachsenen Kinder und seit mehr als vier Jahrzehnten seine Partnerin in allen Belangen – „kennt meine Unebenheiten und versteht es, die durch diese Erlebnisse vorhandenen Spannungen und Emotionen zu glätten“. Viele seiner Erinnerungen sind schmerzlich, denn Berger, einziger Sohn einer ungarisch-jüdischen Familie, wurde in den dreißiger und vierziger Jahren groß.

Siebzig Stunden Interview

„Wenn ich ehrlich sein darf, so muss ich Ihnen sagen, dass die Faschisten, die Pfeilkreuzler, meine Kindheit zerstört haben und die Kommunisten meine Jugendzeit“, heißt es in seiner gerade erschienenen, von der früheren SWR-Journalistin Heidi-Barbara Kloos nach siebzig Stunden Interview aufgezeichneten Autobiografie „Der Mann mit dem Hut“. Es ist eine Geschichtensammlung, in der dem Bitteren der Vergangenheit nicht der Stachel gezogen wird. Aber der Ton der Erinnerungen an Großeltern und Eltern, an die frühen Tage im internationalen Ghetto der Donaustadt, an die vierzig im Holocaust umgekommenen Familienmitglieder, an Schulzeit, Ausbildung, Ausreise in den Westen und Wanderjahre von Regensburg über Dortmund, Düsseldorf, Göteborg, Bremen nach Stuttgart macht hier die Musik. „Widerspenstig und heiter“ sei dieser Ton, befindet György Dalos in seinem Vorwort. Eben ganz wie Berger selbst, der, so schreibt der ungarische Schriftsteller, gleich zweimal zu bewundern wäre: für die Kraft, mit der er all die Schläge der Weltgeschichte ertrug. Und für die humorvolle, lockere, anekdotische, in der Erzähltradition seines Geburtslandes verankerte Art, mit der er das Erlebte wiedergebe.

Diese Gabe vermittelt sich auch beim Gespräch im Stuttgarter Wohnzimmer, Noemi Berger plagt eine Grippe, aber sie lässt es sich nicht nehmen, die Begegnung durch eine herzliche Begrüßung und einen großen Teller Somlauer Nockerl, die Lieblingssüßigkeit ihres Mannes aus Schokoladenbiskuit, Sahne und Walnüssen, zu bereichern. Joel Berger vergisst seine Portion zunächst. Das Erzählen habe er von Haus aus gelernt, sagt er. Die Vergangenheit in Geschichten zu fassen sei von der jüdischen Eigenart abzuleiten, „dass wir nicht eine auf griechisch-römische Spuren zurückzuführende systematische Theologie oder Philosophie haben, sondern eher eine orientalische, narrative“. Komplizierte Vorgänge könnten durch eine Anekdote viel leichter verständlich gemacht werden als durch stundenlange Erklärungen. „Jesus hat Gleichnisse erzählt, aber das war nicht seine Erfindung, das kam von dorther, wo er lebte, litt und starb.“ Und woher stammt Joel Bergers Humor? „Der wuchs bei uns aus dem Boden. Wenn die Zeiten so schlecht sind, dass man heulen könnte, dann lacht man halt lieber.“

Im Elternhaus innerhalb der eigenen vier Wände miteinander zu sprechen sei auch während der Stalin-Zeit fast die einzige Möglichkeit gewesen, seine Integrität zu bewahren. Eine innere Widerständigkeit habe schon seinen Vater ausgezeichnet, auch in der jüdischen Gemeinde in Budapest. Während die Liberalen versuchten, sich mit den Herrschenden zu arrangieren, und oft verhängnisvolle Kompromisse eingingen, zählten sich die Bergers zu den Orthodoxen, die das möglichst zu vermeiden suchten. Auch in seiner Gymnasialklasse „herrschte große Harmonie, irgendwie haben wir das Gefühl gehabt, dass wir zusammengehören, indem wir versuchen, uns auf eine bescheidene Art zu wehren gegen die kommunistische Diktatur“.

Freiheit in der Bildung

Jüdische und klassische Bildung waren Bereiche für Freiräume, „und man musste auch jederzeit schauen: Wie kann man die diktatorische Allmacht austricksen?“ Dass der Sohn nach der Schulzeit Rabbiner werden wollte, war durchaus im Sinne der Familie. Allerdings musste Joel Berger („mit zwei linken Händen“) erst eine Feinmechanikerlehre absolvieren, um dann als Mitglied der Arbeiterklasse zu einem Studium zugelassen zu werden. Zunächst schrieb er sich für Jura, Geschichte und Pädagogik ein. Später, nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt wegen angeblicher Beteiligung am Ungarischen Volksaufstand 1956, studierte er am Rabbinerseminar in Budapest sowie Geschichte, Pädagogik und Volkskunde in Debrecen. Leicht wurde es dem kritischen jungen Mann nicht gemacht.

Mit seinem Herkunftsland Ungarn geht er in seinem Buch recht hart ins Gericht, oder? „Nicht hart genug“, sagt Joel Berger. „Die Ungarn haben sich bis heute nicht mit ihrer faschistischen Vergangenheit auseinandergesetzt. In dem Land, in dem ich dreißig Jahre gelebt habe, konnte ich mich an keinem Tag als freier oder gleichberechtigter Bürger fühlen.“ Er habe im Buch verdeutlichen wollen, dass Ungarn bei den mörderischen Ereignissen des 20. Jahrhunderts eine Vorreiterrolle gespielt habe. „Dort gab es schon nach dem Ersten Weltkrieg antisemitische Pogrome, die Putschisten gegen die Weimarer Republik fanden dort Unterschlupf, und der Holocaust begann dort schon vor der Wannsee-Konferenz. Es war derselbe Mob, der uns unter  faschistischer und kommunistischer Regie unterdrückte.“

Der Vater überlebte Bergen-Belsen

Tagein, tagaus habe er in der Hoffnung gelebt, ausreisen zu können. Direkt nach dem Krieg sei das unmöglich gewesen, weil sein Vater völlig ausgezehrt aus Bergen-Belsen zurückgekehrt sei und Jahre gebraucht habe, „bis er wieder zu sich kam“. Schließlich emigrierte der Sohn 1968 allein nach Deutschland und holte die Eltern nach. Die folgenden Jahrzehnte hat Berger als anhaltende Befreiung erlebt. „Als ich die Grenze überschritten hatte, habe ich sofort gemerkt, dass dieses ständige Überwachtwerden von mir abfiel und ich freier atmen konnte.“ Vor allem die zehn Jahre, die er mit Noemi und den Kindern Michael und Margalit in Bremen wohnte, behielt er in bester Erinnerung. „Die Gesinnung dieser Stadt“ habe ihm viel gegeben: „der hanseatisch-republikanische Geist, das Recht auf freie Meinungsäußerung, Bekanntschaften mit Menschen wie Hans Koschnick“.

Nach Stuttgart zog Familie Berger, weil dort ein größeres jüdisches Umfeld für Sohn und Tochter existierte. „Wir hatten zu meiner aktiven Zeit 150 bis 200 Kinder in der jüdischen Religionsschule in Württemberg.“ Man habe hier mit der Zeit gute Kontakte geknüpft – die Bergers suchten wohl überall eher das Verbindende als das Trennende zwischen den Menschen. Ein hanseatischer Bekannter hatte ihm allerdings vor dem Umzug prophezeit, es werde zehn Jahre dauern, bis er sich an die Schwaben gewöhnt habe. „Er hat nicht mal viel übertrieben“, sagt Joel Berger schmunzelnd.

Volkskultur und Ballkünstler

In der jüdischen Gemeinde in Stuttgart bekam er es vor allem mit Zuwanderern aus Osteuropa zu tun. „Wir haben versucht, ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie hier zu Hause sind.“ Dass die Kinder der damaligen Kontingentflüchtlinge längst deutschsprachig orientiert sind, betrachtet er als Erfolg, auch sonst blickt er zufrieden auf die Jahre als Landesrabbiner zurück, während derer er als Sprecher der Rabbinerkonferenz und Mitglied des SDR- und späteren SWR-Rundfunkrats fungierte.

Vor etwas mehr als zehn Jahren ist er in den Ruhestand gegangen, man könnte auch sagen, er hat das Spielfeld gewechselt. Die jüdische Volkskunde, die er schon in jungen Jahren mit Leidenschaft studierte, pflegte er da bereits seit einiger Zeit als Dozent an der Uni Tübingen. Und dann kam 2002 ein Forschungsauftrag zur jüdischen Volkskultur im Haus der Geschichte Baden-Württemberg dazu, den er immer noch mit Begeisterung ausfüllt. Mit Thomas Schnabel, dem Direktor des Hauses, verbindet Joel Berger auch die alte Liebe zum Fußball. „Die Diktatur baute Mauern zwischen den Menschen, auf dem Fußballplatz konnte man ein bisschen frei sein.“ Über Ballkünstler aus den ungarischen Vereinen könnte er stundenlang sprechen oder über seinen jetzigen Lieblingsclub, den er fast nie live gesehen hat, weil er meistens am Schabbat spielt. Rabbi Berger, ein ganz eigener Kopf, ist Werder-Bremen-Fan.