Sie eilen an Orte, die für die meisten ein Albtraum sind – freiwillig. Die Johanniter-Unfallhilfe beschäftigt rund ein Dutzend Ehrenamtliche, die Opfern von Unglücken oder Angehörigen beistehen. Eine Hoffelderin und ein Sillenbucher erzählen.

Klima & Nachhaltigkeit: Judith A. Sägesser (ana)

Degerloch/Sillenbuch - Ihr erster Einsatz war ohne Leiche. Aufregend war es trotzdem für Anja Rieger aus Hoffeld. Ein Mann hatte ein Hotel überfallen und eine Frau bedroht. Wenn sie die Polizei rufe, komme er wieder, hatte er gedonnert. Das hat die Hotelangestellte psychisch fertiggemacht. Deshalb sind Anja Rieger und Michael Kloss gekommen. Die 24-jährige Hoffelderin als Praktikantin, ihr erfahrener Begleiter aus Sillenbuch als Mitglied des Kriseninterventionsteams der Johanniter-Unfallhilfe.

 

Die Menschen sind emotional außer sich

Die Leute vom Kriseninterventionsteam, kurz KIT, sind im Einsatz, wenn andere in größter seelischer Not sind. Weil sie zusehen mussten, wie ein Kind von der Stadtbahn überrollt worden ist, weil die Ehefrau überraschend gestorben ist, oder weil sie mit im Auto saßen, als es zum tödlichen Zusammenstoß kam. Menschen, denen Furchtbares passiert, sind emotional außer sich, sie können nicht klar denken, Körper und Geist driften auseinander. Es ist der Job von kirchlichen Notfallseelsorgern oder eben dem KIT, diesen Leuten beizustehen. Anja Rieger, Michael Kloss und die anderen tun dies ehrenamtlich.

Als Anja Rieger aus Hoffeld zu jener Frau im Hotel kam, wusste sie nicht, wie es ihr selbst hinterher gehen würde. Es gab ein Vorgespräch, dann heftete sie sich bereits an die Fersen eines erfahrenen Helfers. Wer sich für die Mitarbeit im KIT interessiert, wird schnellstmöglich mit der Realität konfrontiert. „Das ist uns wichtig“, sagt Tobias Grosser, der für die Öffentlichkeitsarbeit der Johanniter-Unfallhilfe zuständig ist und selbst seit 1998 an Orte fährt, die ein Albtraum sind. „Wir wollen sehen, wie die Neuen reagieren“, sagt Grosser. So stelle sich recht schnell heraus, ob sich der Anwärter doch besser auf die Suche nach einem anderen Ehrenamt machen sollte – und die Johanniter können sich die Ausbildung sparen.

Anja Rieger aus Hoffeld Foto: privat

Wer Anja Rieger gegenübersitzt, würde wohl niemals erraten, was sie in ihrer Freizeit macht. Die gelernte Physiotherapeutin hat eine leicht transparente schwarze Bluse an, locker zurückgestecktes Haar und rot lackierte Fingernägel. Noch ist sie fürs KIT nicht fertig ausgebildet, sie ist noch im Duo unterwegs, später wird sie allein sein. „Es sind neue Situationen“, sagt sie. „Man weiß erst mal nicht, was man sagen soll, weil man mit Eindrücken bombardiert wird.“

Gesehen hat sie schon einiges. Entstellte Menschen, Tote, Trauer, Trauer und nochmals Trauer. Seit sie im August 2014 angefangen hat, ist sie nicht abgestumpft, aber sie hat langsam den Dreh raus, was zu tun ist, wenn die Leute vom KIT an einen Ort kommt, an dem gerade etwas Schreckliches geschehen ist. Die Freunde von Anja Rieger verstehen nicht, warum sie sich das antut. „Es gibt einem auch sehr viel zurück“, sagt sie. Sie spürt eine große Dankbarkeit bei den Leuten, für die sie in der Stunde der allergrößten Not da ist. Und auch der Rückhalt im Team gibt ihr viel.

Der Coach fragt, der Krisenhelfer auch

Michael Kloss aus Sillenbuch ist seit 2008 im KIT. Der 46-Jährige arbeitet als Coach, was gut zu seinem Ehrenamt passt. Als Coach fragt er, als Krisenhelfer auch. „Wir geben keine Antworten“, sagt er. Wenn das Gegenüber extrem emotional ist, übernehmen sie das Rationale. Sie fragen den Angehörigen, wen er anrufen will, hinterfragen, ob es die Kinder wirklich schlimm fänden, mitten in der Nacht geweckt zu werden, wenn sie wüssten, was passiert ist, sie besichtigen auf Wunsch mit einem Unfallopfer die Unglücksstelle, wenn das dem anderen hilft. Michael Kloss und seine Kollegen bringen Struktur in eine Welt, die für einen anderen aus den Fugen geraten ist. „Es gibt kein Patentrezept, was zu tun ist“, sagt er. „Jeder Einsatz ist anders. Wir lernen täglich neu.“

Dass er anderen in solch schweren Lebenslagen Stütze sein kann, erklärt er sich so: „Es ist nicht mein Schicksal. Es kann aber schon mal sein, dass einem eine Träne runterläuft.“ Nicht aus Trauer, sondern aus Berührung. Michael Kloss denkt zum Beispiel an die Art, wie sich eine blinde Frau von ihrem verstorbenen Mann verabschiedet hat. „Das sind bewegende Situationen.“

Die Supervision ist eine Pflichtveranstaltung

Einmal im Monat treffen sich die Ehrenamtlichen zur Supervision. Die Veranstaltung ist ein Muss. Dann kann zur Sprache kommen, was sich angestaut hat. Zum KIT gehören derzeit zehn Aktive und sechs Anwärter. Sie teilen die Bereitschaft untereinander auf. Die Regel sind 24-Stunden-, teils sogar 48-Stunden-Dienste. Kommt ein Einsatz rein, lassen sie alles stehen und liegen, steigen ins Johanniter-Fahrzeug und fahren los.

Der erste Einsatz von Michael Kloss war mit Leiche. Er erinnert sich noch gut. Es war nach Silvester. Eine Gruppe von Freunden war nach einer Party zum Jahreswechsel heimgelaufen, dabei sei einer verloren gegangen. Ein paar Tage später ist er tot gefunden worden, er war an einem Hang abgestürzt. Kloss, damals noch Praktikant, war bei der Familie – einer türkischen Großfamilie. Aus 20 Leuten wurden rasch 80, erzählt er. Die redeten durcheinander und waren mit sich beschäftigt. „Das Betreuen war schwer möglich.“

Infos zur Ausbildung:

Die Ausbildung der Johanniter-Unfallhilfe versorgt künftige Helfer des Kriseninterventionsteams mit Werkzeugen und Strategien, um Menschen nach einem Unfall oder Unglück beizustehen. Die Ausbildung richtet sich an Menschen von 24 Jahren an.

Die Teilnehmer der Ausbildung lernen in 80 Unterrichtseinheiten (entspricht etwa vier Wochenenden) Gesprächstechniken und andere psychologische Tricks. Teil ist zudem eine sanitätsdienstliche Ausbildung, die etwa eine Woche umfasst. Zudem müssen sie hinterher zum Beispiel mit Blaulicht fahren und funken können.

Wer sich für die Ausbildung interessiert, wendet sich an Tobias Grosser, Telefon 93 78 78 16, Mail tobias.grosser@kit-stuttgart.de.