Weshalb ist es in unseren Breiten der Normalfall, nicht einzuschreiten, sondern nur zuzuschauen?


Naja, wir haben eine sehr späte Demokratie, die im westlichen Teil Deutschlands nach 1945 zu funktionieren begonnen hat. Davor gab es nur hilflose Versuche, die nicht von demokratischen Menschen, sondern von verhetzten Massenmenschen getragen waren. Im Osten kam für die parlamentarische Demokratie noch eine Verspätung von vierzig Jahren dazu. Wir leben in einem Land, das immer noch stark verunsichert ist, das zu wenige selbstbewusste Bürger hat, die für ihre Gesinnung und für ihre Rechte öffentlich einstehen. Stattdessen wird immer noch nach dem starken Mann oder nach einer Ordnungsmacht gerufen.

Woran machen Sie diese Beobachtung fest?


Neulich habe ich zufällig im Fernsehen eine Geschichte über diese Menschen gesehen, die andere anrufen und nach den Daten ihres Bankkontos fragen. Manche sind tatsächlich so dumm, geben ihre Daten an und wundern sich hinterher, wenn ihnen Geld abgebucht wird. Von den Opfern, die im Fernsehen befragt wurden, hat kein Einziger gesagt: "Ich war einfach zu blöd, um die Situation zu durchschauen. Ich hätte wachsamer sein sollen." Stattdessen sagen alle: "Ja, darf denn so etwas überhaupt sein, warum ist das nicht längst abgestellt, und wo bleibt der Staat?"

Sie haben im März Aufregung hervorgerufen, als Sie in der "Welt" über Ihre Erziehung im Klosterkonvikt geschrieben und die Pädophilen, die auch Sie missbraucht hatten, nicht in Bausch und Bogen verdammt haben: "Die Pädophilen waren in dieser Sphäre von klösterlicher Gewalt eine Oase der Zärtlichkeit." Würden Sie den Satz heute noch einmal so schreiben?


Natürlich würde ich das noch einmal so schreiben. Aber dieser Satz gilt nur für mich, für meine subjektiven Erfahrungen inmitten dieser Atmosphäre von pädagogischer Gewalt und dem Sadismus der Schüler. Ich hatte damals keinen starken Stand unter meinen Mitschülern, sonst hätte die Sache vielleicht anders ausgesehen. Ich habe es so erlebt, wie ich es geschrieben habe, auch als eine Auszeichnung. Und dieser Aspekt ist nicht traumatisierend. Andere Aspekte sind es schon. Ich habe in meinem Text keinen Zweifel daran gelassen, dass ich die Sachen, die damals geschehen sind, nicht für richtig halte.

Sie haben immerhin geschrieben, dass Pädophile auch zärtlich, fürsorglich und liebevoll seien...


... Das ist so, ja. Pädophile sind selten Gewalttäter im landläufigen Sinne. Sie sind in die Kinder verliebt und auf eine Weise ihren eigenen Trieben ausgeliefert, dass sie die Kontrolle darüber verlieren. Das führt in ihren zärtlichen Hinwendungen zu den Kindern zu Grenzüberschreitungen, die nicht tolerierbar sind. Aber im Wesentlichen sind das zärtliche Zuwendungen - die aber ihre Grenze nicht kennen.