Joshua Kimmich, einst beim VfB, ist der Aufsteiger des Jahres – in der Bundesliga und der Nationalelf. Ehrgeiz und Führungsqualitäten zeichnen ihn auf dem Spielfeld aus, Bodenständigkeit und Reife außerhalb.

Evian - Am Abend des Dreikönigstages 2013 entwirft Joshua Kimmich seine Zukunftspläne auf einer Bierbank im Sindelfinger Glaspalast. Neben ihm stehen eine Flasche Mineralwasser und der Pokal für den besten Spieler des Juniorcups, des wohl besten Hallenturniers der Welt. Seine Freude hält sich in Grenzen, weil er mit dem Nachwuchs des VfB Stuttgart das Endspiel gegen Schalke 04 verloren hat. Mit ernster Miene blickt Kimmich voraus aufs Abitur, das er bald ablegen wird, und fragt sich, ob der Fußball wirklich alles ist im Leben. „Vielleicht mache ich in Fernstudium oder ein freiwilliges soziales Jahr“, sagt der 17-Jährige. Er brauche „einen geregelten Tagesablauf“.

 

Auf einem Plastikstuhl sitzt Joshua Kimmich dreieinhalb Jahre später in Evian am Genfer See, wieder steht Mineralwasser neben ihm. Er ist nicht dazu gekommen, ein soziales Jahr anzutreten, auch das Fernstudium muss warten. Geregelt ist dafür sein Tagesablauf. Essen, Training, Besprechung, Nationalhymne singen, für Deutschland spielen. Er ist jetzt Mitglied der Weltmeisterauswahl, die auch Europameister werden will. Über seine Zukunft muss sich Kimmich nicht mehr den Kopf zerbrechen – er ist mittendrin im prallen Leben eines Fußball-Nationalspielers und hat das Beste noch vor sich.

Große Entdeckung

Joshua Kimmich, 21 Jahre alt und in Rottweil geboren, gilt als eine der großen Entdeckungen der EM in Frankreich, bei der die deutsche Mannschaft an diesem Samstag (21 Uhr/ARD) in Bordeaux gegen Italien um den Einzug ins Halbfinale kämpft. Auf den letzten Drücker hat er es in den Kader geschafft, saß in den beiden ersten Spielen auf der Ersatzbank – und zeigte in den zwei folgenden Partien herausragende Leistungen. Verblüfft ist die Fußballwelt von seinem Auftreten, bestätigt sehen sich langjährige Wegbegleiter. „Joshua war schon immer außergewöhnlich“, sagt Thomas Albeck, „er hat alle Voraussetzungen, nicht nur ein sehr guter, sondern ein großer Spieler zu werden.“

Albeck (60) leitet das Nachwuchsleistungszentrum des Bundesligaaufsteigers RB Leipzig, bis 2012 war er Jugendkoordinator des VfB Stuttgart. Er kann sich gut erinnern, wie er einst zum Spiel einer Bezirksauswahl in den Schwarzwald gefahren ist. Ein Elfjähriger steht auf dem Feld, kleiner und schmächtiger als alle anderen – und trotzdem in jeder Hinsicht überragend. „Einen so ehrgeizigen und erfolgsorientierten Spieler habe ich in diesem Alter selten gesehen“, sagt Albeck. Er holt Kimmich vom Dorfclub VfB Bösingen nach Stuttgart, wo rasch klar wird: Da wächst ein künftiger Bundesligaspieler heran.

Es sind noch die besseren Zeiten des VfB Stuttgart. Ende November 2009 reisen die Profis zum Champions-League-Spiel nach Glasgow und werden von der U 15 begleitet, die ein Freundschaftsspiel gegen den Rangers-Nachwuchs bestreitet. Kunstrasenplatz, strömender Regen, kantige Schotten, die zwei Köpfe größer sind und schnell mit 2:0 führen. Kimmich reißt das Spiel im Alleingang herum, am Ende steht es 2:2. „Man hat bei ihm vom ersten Tag an gesehen, dass er nicht nur große strategische Fähigkeiten besitzt, sondern auch das Gewinnergen in sich trägt“, sagt Thomas Schneider, Assistenzcoach der Nationalmannschaft und früherer Jugendtrainer von Kimmich in Stuttgart.

Ehrgeiz und Führungsqualitäten

Ehrgeiz und Führungsqualitäten zeichnen ihn auf dem Spielfeld aus, Bodenständigkeit und Reife außerhalb. Mit 16 zieht der Sohn eines Sparkassen-Bezirksleiters ins Jugendinternat des VfB und geht am Wirtemberg-Gymnasium in Untertürkheim zur Schule. VfB-Talente fahren dort auch mal mit einem Mercedes vor oder drücken sich vor dem Unterricht, weil sie die Millionen schon vor sich sehen. Bei Kimmich ist das anders. Allüren sind ihm fremd. „Er ist nie zu spät gekommen, war immer pflichtbewusst und lernbegierig. Vorbildhaft in jeder Beziehung“, sagt der Studiendirektor Lars Köhler, der Kimmich in Englisch unterrichtet hat. Sein Abitur legt der Musterschüler 2013 mit der Gesamtnote 1,7 ab.

Beim VfB haben längst die schlechteren Zeiten begonnen – in der einst florierenden Jugendabteilung regiert das Chaos. Zerrüttet ist das Verhältnis zwischen dem U-23-Trainer Jürgen Kramny und dem Nachwuchschef Ralf Becker, die nur noch schriftlich miteinander kommunizieren. Becker verwehrt Kimmich den Wunsch, nach dem ersten Jahr bei den A-Junioren ins zweite Team aufzurücken, wie es bei Toptalenten üblich ist. Timo Werner, ein Jahr jünger, spielt sogar schon bei den Profis. Kimmich hingegen müsse sich gedulden, es gebe auf seiner Position zu viele andere Spieler, das sagt auch der Manager Fredi Bobic. Eine fatale Fehleinschätzung.

Kimmich ist tief gekränkt. Er bittet um die Freigabe und rennt bei Ralf Rangnick, in besseren Zeiten selbst für den VfB-Nachwuchs verantwortlich, offene Türen ein. Der Sportdirektor holt das Talent nach Leipzig. Kimmich ist anfangs verletzt und kämpft sich über die U 19 und U 23 in die Profimannschaft vor, damals noch dritte Liga. „Es war frappierend“, sagt Thomas Albeck, der seine Entdeckung aus dem Schwarzwald nun wiedertrifft: „Joshua kam in fremde Mannschaften – und war trotzdem immer sofort der Chef.“ Auch dank Kimmich steigt RB Leipzig auf.

Zeiten sind schlechter geworden

Nach der zweiten Saison könnte der VfB sein Eigengewächs zurückholen. Eine Rückkaufoption ist im Vertrag verankert worden. Doch die Zeiten sind noch schlechter geworden. Der Verein braucht dringend Geld. Um die Bilanz zu retten, wird der Transfer zum FC Bayern schon kurz vor dem Jahresende 2014 fixiert. 8,5 Millionen Euro bekommt der VfB – viel Geld für einen 19-Jährigen, der noch nie in der Bundesliga gespielt hat.

Viel mehr aber kostet der Abstieg eineinhalb Jahre später. Mit Kimmich, davon sind viele überzeugt, wäre den Stuttgarter die zweite Liga erspart geblieben. Er würde „gerne jeden erschlagen“, der an Kimmichs Verkauf beteiligt war – das sagt Alexander Zorniger, sein früherer Trainer in Leipzig, kurz bevor er beim VfB entlassen wird.

Im Sommer 2015 dann der Wechsel von Leipzig nach München, der größtmögliche Schritt, mit einigem Risiko verbunden. Es hat viele Talente gegeben, deren Hoffnungen beim Rekordmeister bitter enttäuscht worden sind. Im Fall Kimmich werden alle Erwartungen weit übertroffen. „Er ist fast wie mein Sohn, ich liebe diesen Jungen, er ist einer der Besten, die wir haben“, sagt Trainer Pep Guardiola. 23 Bundesligaspiele bestreitet Kimmich in seiner Premierensaison auf wechselnden Positionen, er steht im Champions-League-Halbfinale, wird Meister, Pokalsieger, Nationalspieler.

Spielintelligenz und Ballsicherheit

Er könne den Neuling „bedenkenlos auf mehreren Positionen einsetzen“, erklärt der Bundestrainer Joachim Löw vor der EM und entscheidet sich für den Posten des rechten Verteidigers. Mit seiner Spielintelligenz, Ballsicherheit und Ruhe erinnert Kimmich an Philipp Lahm, den Weltstar und langjährigen Kapitän. Der Vergleich ehre ihn, sagt der Neuling, „aber Philipp ist der beste Außenverteidiger der Welt und hat das über Jahre hinweg bestätigt. Bei mir waren es nur zwei Spiele“. Dass viele hinzukommen werden, daran zweifelt kaum einer – mit Ausnahme von Thomas Hitzlsperger, der Kimmich für „überbewertet“ hält. Hohn und Spott ergießt sich nach dieser Einschätzung über dem neuen Mitglied der VfB-Vereinsführung.

Bisher, so berichtet Joshua Kimmich, habe er in München unbehelligt durch die Stadt spazieren können. „Ich bin nur selten erkannt worden.“ Er werde sehen, „ob sich das nach meiner Rückkehr ändert“. Wenn es in Frankreich so weitergeht, wird er sich auf einiges gefasst machen müssen.