Das Ensemble Materialtheater wird dreißig. Es hat Figurentheatergeschichte geschrieben.

Kultur: Adrienne Braun (adr)

Stuttgart - Vielleicht hätte Gott die armen Menschen einfach nicht in Versuchung führen sollen. Ohne Apfel keine Sünde – und der Schöpfer des Himmels und der Erde hätte den Menschen hin und wieder im Paradies einen Besuch abstatten und sich an ihrer Nacktheit erfreuen können. Als Sigrun Kilger und Hartmut Liebsch sich eine Variante des Paradieses ausdachten, musste Eva dem lüsternen Gottvater allerdings häufiger auf die Finger klopfen. „Paradise now“ nannten die beiden Figurenspieler ihr „ausgeklügeltes, erfindungsreiches und gescheites Spiel im Spiel“, wie es in der Rezension der Stuttgarter Zeitung 1992 hieß. Diese ironische Variante der biblischen Geschichte sei „voller Witz, Esprit und liebevoller Details“.

 

Inzwischen sind Kilger und Liebsch 25 Jahre älter – aber „Paradise now“ war eine der Produktionen, die das Figurentheater damals in eine neue Dimension katapultierten. Während Figurenspiel bis dahin meist mit niedlichem Puppentheater in Verbindung gebracht wurde, nutzte diese neue Generation die unmöglichsten Materialien, und wenn es nur eine verknotete Serviette war.

Als Kilger und Liebsch 1987 ihr Studium an der Stuttgarter Musikhochschule abschlossen, machten sie ein kleines Stück über ein streitendes Paar beim Frühstück, bei dem auch Kaffeekanne und Tassen, Eierbecher, Käseglocke und Brötchen zum Einsatz kamen. „Das Frühstücksmärchen“ wurde ein voller Erfolg, und das Kultstück wurde in 25 Ländern gespielt. Der Startschuss des Materialtheaters, das heute eines der wichtigen Ensembles des deutschen Figurentheaters ist.

Die Hauptfiguren im „Don Quijote“ sind weiblich

Im November feiert das Ensemble Materialtheater nun seinen dreißigsten Geburtstag mit einem Festival im Fitz. Gezeigt werden nicht nur Highlights wie „Das Frühstücksmärchen“, sondern auch die Premiere „Don Quijote“ – die beiden Hauptfiguren sind allerdings weiblich. Die Weltliteratur gibt den Figurenspielern auch Anlass zur Selbstbeschau: „Der Pragmatiker und der Idealist – das passt auch zu uns“, sagt Sigrun Kilger, „wird sind ja auch Stehaufmännchen.“

Dabei hätte es für sie kaum besser laufen können. Als Kilger und Liebsch studierten, stand die Mauer noch – und die Heimat des Figurentheaters lag im Osten an der Ernst-Busch-Schule. Umso mehr fielen diese jungen, frechen Spieler aus Stuttgart auf, die eine neue Bildsprache entwickelten. „Das hat uns viele Türen geöffnet“, erinnert sich Kilger. Ihre Kommilitonen machten Kindertheater, denn im Studium wurde ihnen eingebläut, dass man mit Figurentheater höchstens Geld verdienen kann, wenn man durch Schulen tingelt. Kilger und Liebsch wollten dagegen für Erwachsene spielen – und das Materialtheater wurde zum Flaggschiff einer neuen Ästhetik, die nichts mehr mit Puppentheater zu tun hat, sondern bei der auch wie in „Paradise Now“ die Spieler selbst auf der Bühne stehen.

Heute ist das Materialtheater eine Art Marke, ein Logo. Das Team hat sich verändert. Hartmut Liebsch lebt und arbeitet inzwischen in der Mühle Kocherturn bei Heilbronn, wo er auch ein Figurentheaterfestival veranstaltet. Zum Kernteam des Ensembles gehören stattdessen neben Sigrun Kilger Alberto Sanchez, Daniel Kartmann und Annette Scheibler, die skurrilen Humor und komisches Talent mitbringt und sich mit Sigrun Kilger viele Jahre lang auch politisch für die freie Theaterszene in Stuttgart engagierte. Ihnen ist es letztlich zu verdanken, dass die Freien heute Konzeptionsförderung beantragen können, wovon das Materialtheater auch immer wieder profitiert hat.

Figurentheater hat es immer noch schwer

Trotz aller Erfolge, „wir kämpfen immer noch“, sagt Sigrun Kilger, denn in Deutschland hat es das Figurentheater für Erwachsene nach wie vor schwer. In Frankreich haben die Theater häufig kein eigenes Ensemble. Sie leben vom Gastspielbetrieb und buchen deshalb auch interessantes Figurenspiel für die großen Bühnen. In Stuttgart hat die Figurentheaterszene zwar ihre Heimat im Fitz, leben können die Künstler aber nur durch den Tourneebetrieb.

Letztlich zeichnet die Stücke des Ensembles Materialtheater noch heute das aus, was schon das „Frühstücksmärchen“ so erfolgreich machte: Die Spieler sind nicht getrieben vom Anspruch, hohe Kunst zu präsentieren, sondern gehen mit Humor und Selbstironie ans Werk und reflektieren immer wieder sich selbst und ihre Materialien. Das führt zu spannenden Brüchen und ist dabei nicht nur kurzweiliger für das Publikum, sondern ganz nebenbei auch das, was heute von Theatern erwartet wird: Es ist innovativ. Das liegt auch daran, dass das Ensemble ganz bewusst den Kontakt zu jungen Künstlern sucht. „Wir empfinden uns immer noch als sehr kreativ“, sagt Sigrun Kilger, aber sie arbeitet gern auch mit Hochschulabsolventen zusammen. Denn Sigrun Kilger denkt manchmal schon an die Zukunft, mit einer leisen Hoffnung, dass eines Tages – wer weiß – vielleicht die nächste Generation das Ensemble Materialtheater übernimmt „und unser Erbe weiterführt.“