Das Stuttgarter Jugendamt hat einer Frau, die im Methadonprogramm ist, ihr Baby weggenommen und es zu Pflegeeltern gegeben. Nun will sie ihr Kind zurück – und beklagt, dass das Amt überreagiert habe. Auch andere sehen das so. Das Amt weist die Vorwürfe zurück.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Melanie Damme (Namen geändert) zeigt Handybilder ihrer Tochter Sophie. Ein Baby mit Pausbäckchen strahlt einen darauf an. „Sehen Sie, wie süß sie lacht und wie hübsch sie ist?“ Die 27-Jährige wischt sich die Augen. Sophie lebt nicht mehr bei ihr. Seit dem 22. Mai kümmert sich eine Pflegefamilie um das fünf Monate alte Baby. Zweimal die Woche darf sie ihr Kind für eine Stunde unter Aufsicht sehen. Melanie Damme versteht seither die Welt nicht mehr. Sie hat Angst, ihre Tochter für immer zu verlieren. Das Eilverfahren vor dem Familiengericht hat sie verloren. Das Aufenthaltsbestimmungsrecht liegt beim Jugendamt.

 

Um einzuordnen, was passiert ist, muss man die Vorgeschichte in diesem Fall kennen. Melanie Damme war drogenabhängig und ist in einem Methadonprogramm. Wie ihr behandelnder Arzt bestätigt, ist sie seit vier Jahren stabil, sie hat in dieser Zeit auch ihren Hauptschulabschluss nachgeholt. Im Dezember kam Sophie auf die Welt. Der Vater ist nicht aus der Drogenszene. Das Paar hat sich aber wieder getrennt.

Hilfen werden heruntergefahren

Drei Monate lang war das Mädchen im Olgahospital, um vom Methadon zu entziehen, dann kamen Mutter und Tochter nach Hause. Fünfmal die Woche hatte Melanie Damme Besuch von einer Kinderkrankenschwester und einer Familienhelferin. „Alle haben gesagt, wie super ich das mache“, sagt Melanie Damme, die beim Gespräch von ihrer Mutter Kathrin, ihrer Anwältin und Sophies Vater begleitet wird. Auch ihr Arzt, der Suchtmediziner Albrecht Ulmer, bestätigt am Telefon, eine E-Mail der Kinderkrankenschwester gelesen zu haben, in der seine Patientin gelobt wurde. Weil es so gut lief, seien am 8. Mai die Hilfen vom Jugendamt runtergefahren worden – auf zweimal die Woche.

Zehn Tage später passierte, was Melanie Damme und ihre Rechtsanwältin „den Vorfall“ nennen. Ein Passant rief die Polizei, weil er sah, auf welche Art Melanie Damme den Kinderwagen bewegte. Sie habe den Wagen mit den Händen stark vibriert, erzählt sie. Als Folge des Entzugs habe ihr Baby Einschlafprobleme, die Vibration helfe.

Die Polizeibeamten gaben Folgendes zu Protokoll: Passanten hätten beobachtet, wie die Mutter den Kinderwagen „mehr als üblich“ schüttelte. Bei der Kontrolle hätte der Vater das Kind auf dem Arm gehabt. Die Mutter habe berichtet, dass sie das Kind immer so schaukele, damit es einschlafe. „Das kleine Kind machte einen normalen Eindruck und lachte mit den vorbeikommenden Passanten“, steht im Bericht. „Besonderheiten im Verhalten konnten vor Ort nicht festgestellt werden.“ Der Bericht ging nach Angaben eines Polizeisprechers zur Kenntnis ans Jugenddezernat. Eine Anzeige sei nicht gestellt worden.

Anwältin sieht Überreaktion des Jugendamts

Am Folgetag kam es zu einer Krisensitzung mit dem Jugendamt bei Suchtmediziner Ulmer, in der es darum ging, Sophie in Obhut zu nehmen. Ergebnis nach übereinstimmender Darstellung von Melanie Damme und ihrem Arzt: Sophie dürfe bei ihr bleiben, wenn sie sich an neun Punkte halte. Sie sollte nun wieder mindestens vier Tage die Woche betreut werden.

Nicht einmal 48 Stunden später wurde Melanie Damme an einer Bushaltestelle in der Nähe ihrer Wohnung von einem Polizeiauto überrascht. Man habe ihr das Kind weggenommen und sei weggefahren. „Die haben mich mit Gewalt weggerissen, ich durfte mich nicht einmal verabschieden“, erzählt sie. Trotz ihrer Vorgeschichte wurde sie nicht psychologisch betreut.

Wäre auch ein milderes Mittel möglich gewesen?

Für Melanie Dammes Rechtsanwältin, Vivien Witte-Gass, steht fest: „Das Jugendamt hat hier überreagiert.“ Sie versteht nicht, warum nicht ein milderes Mittel, wie eine Mutter-Kind-Einrichtung, gewählt wurde, in der sich ihre Klientin erneut hätte beweisen können – oder warum das Baby nicht zu seiner Oma gekommen ist. Auch der Mediziner Ulmer meint: „Da ist was schiefgelaufen. Man muss nicht gleich mit den ganz großen Maßnahmen kommen.“

Die zuständige Abteilungsleiterin im Jugendamt, Regina Quapp-Politz, weist die Vorwürfe zurück. „So kleine Kinder muss man so schützen“, sagt sie und verwahrt sich dagegen überzureagieren. Sie verweist darauf, dass ihre Dienststelle entgegen dem Bundestrend nicht mehr Inobhutnahmen habe als früher. Die Plätze in Mutter-Kind-Heimen seien alle belegt – zudem kämen dort oft keine substituierten Mütter unter. Bei der Oma hätte man nicht sicher sein können, dass sie das Kind nicht doch ihrer Tochter gibt.

Nach der langen Zeit im Krankenhaus und dem schweren Entzug sei dieses Baby zuwendungsbedürftiger als andere. Es brauche besonders viel Beruhigung und Zuwendung. „Es wird immer ein Drogenbaby bleiben“, betont sie. Der Vorfall am Rotebühlplatz sei zwar der Anlass gewesen, das Kind herauszunehmen, aber nicht der einzige Grund für die Inobhutnahme. „Ausschlaggebend war, was sowieso in den Akten stand“, sagt Regina Quapp-Politz.

Jugendamt: In den zehn Tagen ist zuviel passiert

Doch warum hat das Amt die Hilfen dann kurz zuvor heruntergefahren? „Wir hatten den Eindruck, dass es ganz gut klappt“, räumt die Vertreterin ein.

Hätte man statt der Inobhutnahme die Hilfen nicht einfach wieder verstärken können?„Wir waren der Meinung, dass das nicht reichen würde.“ Man habe nicht ausschließen können, dass es zu einer Gefährdungssituation in der Nacht oder am Wochenende kommen könnte, erklärt Quapp-Politz. In den Tagen nach dem 8. Mai sei zu viel passiert. So habe Melanie Damme Gesprächstermine bei ihrem Arzt und ihrer Drogenberaterin nicht wahrgenommen, das habe sie an ihrer Zuverlässigkeit zweifeln lassen. Auch die Trennung der Eltern sei in diese Zeit gefallen. Der Vater sei eine sehr stabile Bezugsperson gewesen.

Die Eltern haben sich allerdings schon früher getrennt. „Davon wusste auch das Jugendamt“, sagt Kathrin Damme und legt das offizielle Protokoll des Kontaktgesprächs am 8. Mai vor, in dem die Trennung thematisiert wird. Dort steht, die Familiensituation nach der Trennung sei „turbulent“ gewesen. Der Vater habe aber nun eine neue Wohnung gefunden. Er komme und unterstütze Frau D., das klappe ganz gut. Lobende Worte folgen: „liebevoll und fürsorglich“ gingen die Eltern mit ihrer Tochter um. „Sie sehen, was das Baby braucht, und die Eltern haben auch aus sich heraus gute Ideen, was S. helfen würde, wenn sie unzufrieden ist oder sich unwohl fühlt.“ Und zur Mutter alleine: „Sie versorgt S. gut, und S. entwickelt sich gut.“

Sie vermisse ihre Enkelin, sagt Kathrin Damme. Einmal die Woche hat sich die Industriefachwirtin nachmittags um sie gekümmert. Die Anwältin betont, ihre Klientin sei absolut kooperationsbereit und einverstanden, ihre Erziehungsfähigkeit überprüfen zu lassen. Sie hat Beschwerde beim Oberlandesgericht eingereicht.

Bundesweit steigen die Zahlen – in Stuttgart sind sie stabil

Begriff
Mit der Inobhutnahme wird die vorläufige Aufnahme und Unterbringung eines Kindes oder Jugendlichen bezeichnet, weil diese sich nach Auffassung des Jugendamts in einer akuten, sie gefährdenden Situation befinden.

Anstieg
Bundesweit sind die Inobhutnahmen in den vergangenen Jahren stark gestiegen, 2012 auf den bisherigen Höchststand von 40 200 Fällen. Zum Vergleich: 2007 waren nur 28 200 Kinder und Jugendliche von den Ämtern aus ihren Familien genommen worden. Die Zahlen für 2013 liegen dem Statistischen Bundesamt noch nicht vor.

Stuttgart
Diese Entwicklung gibt es in Stuttgart nicht. Seit Jahren werden nach Angaben des Jugendamts ähnlich viele Kinder aus den Familien genommen. Die Zahlen würden immer zwischen 80 und 100 schwanken. Im Jahr 2010 seien 93 Kinder in Obhut genommen worden. 2011 waren es nur 82 Jungen und Mädchen, 2012 dann 100 und auch 2013 wieder 100 Kinder. Angesichts von insgesamt rund 13 000 Haushalten, mit denen sie 2013 zutun hatten, sei die Zahl der Inobhutnahmen marginal, meint die zuständige Abteilungsleiterin im Jugendamt, Regina Quapp-Politz.