Sieben Monate hat ein Kind in einer Pflegefamilie gelebt. Dann kam sie auf richterlichen Beschluss zurück zur Mutter. Deren Anwälte erheben nun Vorwürfe gegen das Jugendamt.

Stuttgart - Die erste Nacht, in der Sophie wieder zu Hause geschlafen hat, kam Melanie Damme (Name geändert) unwirklich vor. Sie musste immer wieder in das Beistellbettchen neben sich gucken. Tatsächlich, da lag ihr Baby und schlummerte. Mehr als ein halbes Jahr lang lebte Sophie in einer Pflegefamilie. Das Jugendamt hatte sie im Mai 2014, im Alter von fünf Monaten, in Obhut hat nehmen lassen – an einer Bushaltestelle mit Hilfe der Polizei. Die StZ hatte berichtet (siehe unten „Die Hintergründe des Falls“).

 

Eine Woche vor Weihnachten hat das Stuttgarter Familiengericht entschieden, dass Sophie zurück zu ihrer Mutter kommt. Es folgte der Empfehlung des Gutachters. Die ehemalige Drogenabhängige und der getrennt von ihr lebende Vater von Sophie werden in dem Protokoll des richterlichen Beschlusses als erziehungsfähig eingestuft. Die Mutter sei ausreichend stabil. Das Protokoll liegt der StZ vor.

Eine weitere Fremdunterbringung lasse sich nicht mehr rechtfertigen. In der Vergangenheit sei es nicht zu konkreten Gefährdungssituationen gekommen. „Diese können daher auch für die Zukunft nicht unterstellt werden“, steht in dem Protokoll.

106 Kinder hat das Jugendamt 2014 in Obhut genommen

Sophie ist eines von 106 Kindern, die das Jugendamt Stuttgart im Jahr 2014 in Obhut genommen hat. Das bedeutet eine Steigerung gegenüber dem Vorjahr, als es 84 Kinder waren. Das Jugendamt weist darauf hin, dass 2014 eine Familie mit sechs Kindern betroffen war, was die Statistik hochgetrieben habe. 2012 seien es auch 100 Kinder gewesen.

Dass das Familiengericht entgegen der Empfehlung des Jugendamts eine Rückführung veranlasst, scheint selten zu sein, obwohl das Bundesverfassungsgericht die Elternrechte gestärkt hat: Beim Familiengericht Bad Cannstatt hat es in jüngster Vergangenheit keinen Fall gegeben, wo dies passiert ist. Das Stuttgarter Familiengericht hat hierzu keine konkreten Zahlen, er sehe aber keinen Trend nach oben, so der Familienrichter Jörg Dimmler.

Anwalt spricht von „glasklarer Ungerechtikeit“

Glaubt man den beiden mit dem Fall befassten Anwälten, hätte das Gericht im Fall Damme eigentlich schon im Eilverfahren im Mai erkennen müssen, dass keine Kindeswohlgefährdung vorgelegen hat. „Dem Gericht ist nach dem Ergebnis des Gutachtens nichts anderes übrig geblieben, als die Fehlentscheidung der Inobhutnahme“ und des Eilverfahrens zu korrigieren, sagt die Fachanwältin für Familienrecht, Vivien Witte-Gass aus Ostfildern. Der Hamburger Anwalt Matthias Bergmann, der sich auf Kindschaftsrecht spezialisiert hat, spricht von einer „glasklaren Ungerechtigkeit“, die Melanie Damme passiert sei.

„Ich hatte selten so einen eindeutigen Fall“, sagt Bergmann. Er verstehe zwar, dass bei einer Mutter, die in einem Methadonprogramm ist, genauer hingeschaut wird. Aber Melanie Damme sei von ihrem Substitutionsarzt gegenüber dem Gutachter als „Musterpatientin“ bezeichnet worden. Ihr sei mit „massiven Vorurteilen“ begegnet worden, kritisiert er. „Ich habe während der Verhandlung nicht einen Satz gehört, der die Grundlage dafür bieten würde, der Mutter das Sorgerecht zu entziehen“, betont er.

Belege dafür, dass für das Kind eine Gefahr ausging, hätten nicht erbracht werden können. Letztlich sei eines übrig geblieben – der impulsive Charakter der Mutter. Das reiche nicht aus, um jemandem sein Kind wegzunehmen, sagt Bergmann und bezieht sich auf das Bundesverfassungsgericht. Laut BVG muss eine nachhaltige Gefährdung vorliegen, damit ein Kind von den Eltern getrennt werden darf: Es muss entweder bereits zu Schaden gekommen sein oder es muss sich eine erhebliche Schädigung mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lassen. Zur Ausübung des Wächteramtes gehöre es nicht, gegen den Willen der Eltern für eine bestmögliche Förderung des Kindes zu sorgen.

„Wenn dem Kind etwas passiert, sind wir dran.“

Das Stuttgarter Jugendamt kennt diese Richtersprüche natürlich. „Wir werden nach wie vor nach unseren Standards die Kinder in Obhut nehmen, in vielen Fällen gelingt das auch mit Zustimmung der Eltern“, sagt die für Familie und Jugend zuständige Abteilungsleiterin, Regina Quapp-Politz. Sie bedauert die Haltung des obersten Gerichts: ,Wir wissen, was es für Kinder bedeutet, wenn sie nicht ausreichend gefördert werden.“ Sie könnten schwierige Familien nicht 24 Stunden rundum betreuen.

Bezogen auf den konkreten Fall sagt Quapp-Politz, der Gutachter und das Gericht sähen keine Gefahr, doch bei ihnen bleiben die Bedenken: „Ist die Impulskontrolle der Mutter so stabil, das sie schwierige Situationen meistert? Da haben wir unsere Zweifel – bis heute.“ Außerdem kritisiert die Jugendamtsvertreterin, dass es „zum Zeitgeist“ dazugehöre, „auf das Jugendamt draufzuhauen“. Das verunsichere die Kollegen. Eines sei doch klar: „Wenn dem Kind etwas passiert, sind wir dran.“

Familienrichter äußert Verständnis

Verständnis kommt von Richter Dimmler: „Wenn das Jugendamt zu spät kommt, sagen alle, hätten sie doch, greifen sie zu früh ein, grätscht das Bundesverfassungsgericht dazwischen.“ Die Eingriffsschwelle sei vom obersten Gericht erhöht worden. Doch werde die Schwelle zu hoch, könne so etwas wie in Freiburg passieren: Ein Dreijähriger wurde totgeprügelt. Allerdings hatte in diesem Fall die Uni-Klinik im Vorfeld das Jugendamt alarmiert, weil sie eine Kindesmisshandlung befürchtete.

Mutter trauert verlorenen Zeit nach

Melanie Damme kommt die Zeit ohne Sophie wie ein Albtraum vor. „Ich habe so viel verpasst. Das kann mir keiner zurückgeben“, sagt sie. Der erste Zahn, der erste Brei, das erste Wort, all das hat sie nicht mitbekommen. Sie sitzt mit ihrer Tochter auf dem Schoß im Wohnzimmer. Das Mädchen ist gerade aufgewacht. Sophie macht einen tadellosen Eindruck, lacht bei jedem Augenkontakt. Melanie Damme zieht ihr den Schlafsack aus, wickelt sie. Sophie streckt ihre Füße in die Luft. „Sie ist voll aufgeweckt“, sagt ihre Mutter stolz.

Der Gutachter und die Richterin hatten eine langsame Rückführung vorgesehen. Der Gutachter hatte eine Übergangsphase von drei bis sechs Monaten vorgeschlagen. Daraus wurde in der Realität eine Woche. „Sophie hatte sich an ihre Pflegeeltern gebunden“, sagt die Mutter, die eine behutsamere Rückführung besser gefunden hätte. Das Kindeswohl habe offenbar bei dieser Entscheidung keine Rolle gespielt. Die Pflegemutter, eine ihrer Fürsprecherinnen, habe nach einer Woche schon das nächste Pflegekind bekommen, erzählt sie. Regina Quapp-Politz räumt ein, dass bei der Rückführung „wegen der Bindung ein längerer Zeitraum besser“ gewesen wäre.

Die Zuständigkeit im Amt für den Fall hat gewechselt

Ambulante Helfer kommen seit Sophies Rückkehr nicht mehr zu Melanie Damme – auch das ein Punkt, der irritiert. Das passiert laut Jugendamt aus Rücksichtnahme gegenüber der Mutter: „Wenn sie Hilfe will, bekommt sie auch welche“, versichert Quapp-Politz. Man müsse sich erst wieder annähern. Sie könne nachvollziehen, wenn die Mutter nun Angst vor dem Jugendamt hat. Deshalb habe man auch die Zuordnung geändert, ein Mitarbeiter aus einem anderen Bezirk ist nun für den Fall zuständig.

Melanie Damme ist tatsächlich bis heute traumatisiert. „Ich habe immer noch Angst, wenn es klingelt, dass sie Sophie wieder abholen wollen.“

Die Hintergründe des Falls

Nach ihrer Geburt war Sophie drei Monate wegen des Methadonentzugs im Olgahospital. Zuhause kamen zunächst fünf Mal die Woche entweder eine Kinderkrankenschwester oder eine Familienhelferin. Unterlagen belegen, dass die Mutter für ihre Fürsorglichkeit gelobt wurde. Die Hilfen wurden auf zweimal die Woche reduziert.

Anlass für die Inobhutnahme war ein Vorfall zwölf Tage nach der Reduzierung der Hilfen. Ein Passant rief die Polizei, als er sah, wie Melanie Damme den Kinderwagen stark schaukelte, damit das Baby einschläft. „Das kleine Kind machte einen normalen Eindruck“, „Besonderheiten im Verhalten konnten vor Ort nicht festgestellt werden“, notierten die Polizeibeamten in ihrem Bericht, der auch ans Jugenddezernat ging. Eine Anzeige wurde nicht gestellt. Am Folgetag kam es zu einem Krisengespräch mit dem Jugendamt. Das Ergebnis: Sophie dürfe bei der Mutter bleiben, wenn diese sich an neun Punkte halte. Zwei Tage später folgte die Inobhutnahme.

Pflegemutter setzt sich beim Gutachter für Mutter ein

Zunächst durfte Melanie Damme ihr Baby einmal die Woche für eine Stunde, begleitet von einer Sozialarbeiterin, sehen, von Juli an drei Mal pro Woche je zwei Stunden. Die Pflegemutter hat dies mit ermöglicht. Sie hat sich beim Gutachter für die Mutter eingesetzt und deren liebevolle Art gelobt.