Die Jugendhilfeeinrichtung Distel hat zugemacht. Sie war eines von nur zwei Häusern im Land mit intensivpädagogischer Betreuung für Mädchen. Jetzt fehlen zwölf Plätze in Baden-Württemberg

Deckenpfronn - Es kam plötzlich und unerwartet: Die überregionale Jugendhilfeeinrichtung Distel in Deckenpfronn ist kürzlich geschlossen worden. „Das Personal war überlastet, wir hatten finanzielle Schwierigkeiten“, – so lautet die offizielle Begründung. Im Oktober 2005 war die Distel eröffnet worden. Aufgenommen wurden Mädchen aus ganz Deutschland, die aus schwierigsten Verhältnissen stammten. Die meisten hatten eine lange Karriere in Heimen und Pflegefamilien hinter sich, manche monatelang auf der Straße gelebt, einige noch nie eine Schule besucht. Viele der 13- bis 17-Jährigen kannten Missbrauch und Misshandlungen. Viele waren wegen Straftaten öfters mit der Polizei in Kontakt gekommen.

 

Wenn andere Einrichtungen aufgaben, Pädagogen resignierten, nahm die Distel die Mädchen auf. Wenige kamen freiwillig. Manche wurden mit richterlichem Beschluss eingeliefert und durften anfangs die Einrichtung nicht verlassen. „Freiheitsentziehende Maßnahmen“ heißt das im Fachjargon. Ein Gefängnis ist die Distel freilich nie gewesen. Nach und nach erhielten die jungen Frauen mehr Freiheiten.

130 Jugendliche wurden betreut

130 Jugendliche sind in den vergangenen sieben Jahren in der Distel betreut worden – manche waren nur einige Wochen da, andere bis zu eineinhalb Jahren. Den Erfolg ihrer Arbeit zu bemessen, fällt den Pädagogen schwer. Immerhin: 24 Mädchen haben in ihrer Zeit in der Distel den Hauptschulabschluss gemacht.

Warum ist das Projekt gescheitert? Die Verantwortlichen tun sich schwer mit einer Antwort. Offenbar begann es zu bröckeln, als der Leiter Sebastian Lustnauer und mit ihm ein Großteil des Starter-Teams Ende des Jahres 2011 die Distel verließen. „Herr Lustnauer hat fünf Jahre lang mit einem ganz enormen persönlichen Engagement gearbeitet. Mit seinem Weggang kam es zu einem Bruch“, sagt Rainer Daum, der Vorstandsvorsitzende des Vereins für Jugendhilfe, dem Träger der Distel. Vielleicht sei auch der Standort im dörflichen Deckenpfronn weit ab von jeder anderen sozialen Einrichtung nicht geeignet, meint Daum. „Die Arbeit ist sehr personalintensiv. Wenn das Haus an eine andere Institution angegliedert gewesen wäre, hätte man bei Engpässen aushelfen können.“

Geld war immer knapp

Hinzu kamen finanzielle Probleme. „Obwohl wir zu 85 Prozent ausgelastet waren, haben wir nie wirtschaftlich gearbeitet“, sagt Daum. „Dazu hätten wir zu 92 Prozent belegt sein müssen.“ Doch das sei nicht möglich bei einer Klientel, die auch schnell den Aufenthalt abbrechen würde oder in die Psychiatrie gebracht werden müsse. Das Jugendamt zahlt jedoch nur für die Zeit des Aufenthalts. „Wir können nicht von einem auf den anderen Tag einen freien Platz belegen – trotz vieler Anfragen“, sagt der Vorstandsvorsitzende Daum.

In Baden-Württemberg fehlen nun zwölf Plätze für die intensivpädagogische Betreuung von Mädchen. Die Distel war eines von nur zwei Häusern mit diesem Angebot im Land. „Wir müssen nun schauen, wie wir diese Lücke füllen“, sagt Jürgen Strohmaier vom Landesjugendamt.

Kommentar zur Distel-Schließung

Kommentar

Unterstützung ist notwendig

Mit der Distel schließt schon die zweite Einrichtung im Kreis

Innerhalb von nur zwei Jahren kam nun das zweite plötzliche Aus für eine soziale Einrichtung im Landkreis. Im Frühjahr 2011 verkündeten die Vorstandsfrauen des Vereins Frauen helfen Frauen, dass sie das kreisweit einzige Frauenhaus nicht mehr halten können. Im September 2011 schloss dieses dann seine Pforten. Seither gibt es keine Zufluchtsstätte mehr für misshandelte Frauen und deren Kinder in Böblingen und Umgebung.

Nun folgt das Ende des Vorzeigeprojekts Distel. Es war eines von zwei Heimen in Baden-Württemberg für Mädchen, die aus schwierigsten Verhältnissen stammten. Hier wurden junge Frauen aufgenommen, die durch alle sozialen Maschen fielen, die so schwierig waren, dass alle anderen Institutionen und Sozialarbeiter längst aufgegeben hatten. Die Distel war für die meisten die allerletzte Chance. Und nicht alle, aber doch sehr viele haben sie genutzt.

Die Gründe für die Schließung beider Einrichtungen ähneln sich: finanzielle Probleme, ein überholtes Konzept und die Überlastung der Mitarbeiter. Beim Frauenhaus waren es die ehrenamtlichen Vorstandsfrauen, die nach Jahrzehnten des Engagements einfach des Kämpfens müde waren. Bei der Distel kamen die hauptamtlichen Pädagogen an den Rand ihrer Kräfte.

Für beide Häuser gilt: es wurde gute Arbeit geleistet, vielen Frauen wurde geholfen. Doch Einrichtungen, die eine solch schwierige Arbeit leisten, brauchen mehr Unterstützung – personell und finanziell. Da sind das Land, der Kreis und die Kommunen gefordert. Zumindest finanziell können sie soziale Institutionen auf sichere Beine stellen. Das geht nur mit festen Zuschüssen, und nicht mit Sätzen, die sich an der Zahl der Klienten orientieren. Dann haben die Pädagogen den Kopf frei für ihre eigentliche Arbeit