Am Anfang floss das Bier in Strömen: Siegfried Bayer war vor 40 Jahren der erste Leiter des Jugendzentrums Villa Roller in Waiblingen. Eine Zeit, in der viele in der Stadt offene Jugendarbeit für überflüssig hielten. Nun forscht Bayer über die bewegte Geschichte des Gebäudes und sucht Zeitzeugen und Sponsoren für ein Buch-Filmprojekt.

Waiblingen - Nicht viele können von sich behaupten, dass ihretwegen schon einmal eine beachtliche Zahl von Menschen auf die Straße gegangen ist. Siegfried Bayer kann das. 40 Jahre ist es her, dass Jugendliche aus Waiblingen und Umgebung lautstark für ihn, den damals ersten und einzigen Sozialarbeiter im wenige Monate zuvor gegründeten Jugendzentrum Villa Roller, demonstriert haben.

 

„Wir wollen nicht Müller, wir wollen nicht Meier, unser Mann heißt Siggi Bayer“ – das war nur einer von vielen Slogans, welche die jungen Revoluzzer im August 1975 auf ihre Plakate gepinselt hatten, um die Verlängerung von Bayers Anstellung zu erreichen. Der Verwaltungsausschuss hatte das mehrheitlich abgelehnt. Das Ziel des Protestzugs war daher das Waiblinger Rathaus, wo der Gemeinderat tagte.

Kinderturnleiter, Kriegsdienstverweigerer, KBW-Mitglied

Fotos aus dieser Zeit zeigen den damals 27-Jährigen mit wallendem Haupthaar und einem stattlichen Rauschebart im Gesicht. Für ihn sprach zwar, dass er aus einer ordentlichen Endersbacher Familie stammte, ehrenamtlich das Kinderturnen leitete und vor seinem Studium an der Fachhochschule für Sozialwesen in Esslingen eine Ausbildung als Sozialversicherungsfachmann bei einer Krankenkasse absolviert hatte. Doch Siegfried Bayer war auch Kriegsdienstverweigerer und Gewerkschaftsmitglied, hatte sich einige Zeit im Kommunistischen Bund Westdeutschland (KBW) engagiert, und, so sagt er und grinst, obendrein auch noch „eine Frau mit Migrationshintergrund –eine Badenerin“ geheiratet.

Siegfried Bayer, Jahrgang 1947, erinnert sich noch gut an den Tag, an dem die Jugend seinetwegen den Aufstand probte. „Ich bin während der Demo in meinem Büro in der Villa Roller gesessen und habe gewartet.“ Vorab hatte er den Schlüssel des Jugendzentrums beim damaligen Oberbürgermeister Ulrich Gauss abgeben wollen, doch der hatte ihn gebeten, den Türöffner zu behalten und Ruhe zu bewahren. Siegfried Bayer wartete an jenem 28. August 1975 also im Büro, bis er schließlich in die Ratssitzung gerufen und befragt wurde, wie er denn zum geltenden Gesetz und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung stehe. „Ich habe auf mein geprüftes Gewissen verwiesen und bin eingestellt worden. Im Nachhinein würde ich sagen, der OB hatte den Gemeinderat ganz gut im Griff.“

Juze-Leitung mit 35 aus Altersgründen abgegeben

Seine grauen Haare trägt Siegfried Bayer inzwischen kurz und ordentlich gescheitelt, auf seiner Nase sitzt eine unauffällig-seriöse Brille, und der einst üppige Bart ist zu einem Drei-Tage-Bärtle geschrumpft. Die Leitung der Villa Roller hat er 1982 mit 35 Jahren „aus Altersgründen“ abgegeben und als Geschäftsführer des Vereins Bewährungshilfe Stuttgart angeheuert. Aber die Villa beschäftigt ihn nach all dieser Zeit noch immer. Und so wälzt Siegfried Bayer seit einem guten Jahr Gemeinderatsprotokolle und Verwaltungsakten, forscht in Archiven und befragt Zeitzeugen. Denn er möchte die bewegte Geschichte des 1912 erbauten Jugendstilgebäudes, seiner Bewohner und Nutzer, aufschreiben und in einem Buch veröffentlichen. Zudem will er mit der Hilfe von drei Studentinnen Interviews mit 30 Zeitzeugen führen, welche der Filmclub Waiblingen mitschneiden soll.

Ursprünglich hatte die Villa als Wohnsitz des Fabrikanten Albert Roller gedient. Im Jahr 1939, so hat Siegfried Bayer recherchiert, kaufte die Stadt Waiblingen das imposante Gebäude. Wozu, das weiß Bayer aus Verwaltungsprotokollen: „Die Stadt wollte dort ein HJ-Heim einrichten.“ Doch der Krieg machte den Plan zunichte. Statt der Hitlerjugend zog das Ernährungsamt ein, denn die Stadt vermietete die Räume an das Landratsamt. Nach Kriegsende nutzte die amerikanische Militärregierung die Villa zu Repräsentationszwecken. Von 1951 an war sie ein städtisches Kinderheim, danach bezog eine Kindertagesstätte die Räume der einstigen Fabrikantenvilla.

Ein Haus für alle Gruppierungen

Im Oktober 1974 zog schließlich die Jugend in die Villa Roller ein. „Das Jugendzentrum ist gleich gut angenommen worden“, erinnert sich Siegfried Bayer: „Wir hatten alle Gruppierungen im Haus – von der Jungen Union über die Jusos bis zu verschiedenen K-Gruppen.“ Diskutiert worden ist viel – zum Beispiel bei den wöchentlichen Hausversammlungen. „Aber es gab nie körperliche Auseinandersetzungen“, erzählt Siegfried Bayer, der sagt: „Ich war gefürchtet. Ich habe gebrüllt, wenn mir etwas nicht gepasst hat.“ Und manchmal, später zu Hause, hat er geheult: „Ich war der seelische Müllkippen-Wächter.“

Die Entscheidung, keinen Alkohol im Jugendzentrum mehr zu verkaufen, hat beispielsweise nicht nur Zustimmung, sondern auch einigen Ärger und Widerstand ausgelöst. Bis zum Alkoholverbot war das Alpirsbacher Klosterbräu in Strömen geflossen: „Wir haben etwa 100 bis 200 Kästen pro Woche gebraucht.“ Die Gewinne am Tresen legte man ganz solide und vorausschauend in Festgeld an – und investierte zudem in ein erstklassiges Fotolabor, wo so mancher spätere Berufsfotograf seine ersten Erfahrungen gesammelt hat.

Die Hoffnung vieler Gemeinderäte, das Jugendzentrum werde sich totlaufen, erfüllte sich nicht: „Ihre eigenen Kinder waren auch dort“, sagt Siegfried Bayer, der auf ziemlich viele engagierte Jugendliche zählen konnte: „Das Jugendzentrum war ein soziales Kunstwerk, alleine hätte ich das nie hingekriegt.“