Die Welt besteht nur aus schlechten Nachrichten? Stimmt nicht. In Stammheim hat jetzt die zwölfjährige Giulia Micolani ein schönes Beispiel für Mitmenschlichkeit gegeben.

Stadtleben/Stadtkultur: Jan Sellner (jse)

Stuttgart - Das Telefon klingelt, einmal, zweimal. Dann meldet sich eine Mädchenstimme: „Hallo?“ Das könnte sie sein. „Spreche ich mit Giulia?“ „Ja, ich bin’s“, sagt die fröhliche Stimme. Richtig verbunden. Im Hintergrund ist ihre Mutter zu hören. Sie ist einverstanden, dass die Zwölfjährige mit dem Mann von der Zeitung spricht. „Erzähl mal, Giulia, wie war das denn mit der alten Dame?“ Giulia überlegt kurz, dann fängt sie an zu erzählen.

 

„Am Montag kam ich von der Schule nach Hause – so gegen halb eins. Als ich das Haus betrat, hörte ich plötzlich Hilferufe . . .“ – so beginnt Giulias Geschichte, in der es zwei Hauptpersonen gibt: sie, die zwölfjährige Giulia Micolani, und eine 96-jährige Dame, die im selben Mehrfamilienhaus in Stammheim lebt. Giulia spricht liebevoll von „der Oma“, obwohl sie nicht mit ihr verwandt ist. Für die „Oma“ macht Giulia auch schon mal die Kehrwoche. Sie hilft gerne.

„Es ging um Leben und Tod“

An diesem Montag vor zwei Wochen hilft Giulia der alten Dame in besonderer Weise. Sie hilft ihr, am Leben zu bleiben. Die „Oma“ war in ihrer Wohnung gestürzt. Den Arm in einem umgekippten Wäscheständer eingeklemmt, lag sie am Boden und blutete. Keiner hörte ihre Hilferufe, denn zum Zeitpunkt des Unfalls war niemand im Haus. Niemand außer Giulia, die gerade von der Schule kam. Das Mädchen rannte in seine Wohnung, schnappte sich den dort deponierten Schlüssel und schloss die Tür zur Wohnung der 96-Jährigen auf. Blitzschnell erkannte sie den Ernst der Lage. „Es ging um Leben und Tod“, sagt Giulia am Telefon. Ihre fröhliche Stimme wird ernst.

Was geschah dann? Die Zwölfjährige reagiert umsichtig und entschlossen: Sie befreit die Dame aus ihrer Notlage, richtet sie auf, bugsiert sie unter Aufbietung „aller meiner Kräfte“ in einen Sessel, gibt ihr zu trinken und verständigt die Polizei. „Ich habe versucht, sie zu beruhigen“, erzählt Giulia. „Denn anfangs ging es ihr nicht so gut.“ Einige Minuten später trifft der Notarztwagen ein. Rettungssanitäter versorgen die schwer verletzte Dame. Sie bringen sie ins Krankenhaus und loben die Zwölfjährige: Toll reagiert!

„Nicht wegschauen“ – das Motto der Familie

Von sich aus hätten Giulia oder ihre Familie über die gute Tat gar nicht gesprochen. Eine Nachbarin war davon jedoch so beeindruckt, dass sie die Redaktion darauf aufmerksam machte: „Das Mädchen hat super gehandelt“, sagt die Nachbarin. „Sie hat sogar dem Krankenwagen den Weg gewiesen. Am Schluss wollte sie noch das Blut aufwischen.“ So mancher Erwachsene könne sich an ihr ein Beispiel nehmen.

Giulia selbst hat sich auch ein Beispiel genommen – an ihrer Mutter und an ihrem Vater – und diese wiederum an ihren Eltern. „Nicht wegschauen, sondern helfen, wenn man kann – mit dieser Einstellung sind wir aufgewachsen“, sagt Adriano Micolani, Giulias Vater. Der 38-Jährige stammt aus Lecce in Italien. Als Zehnjähriger kam er nach Deutschland. Giulias Mutter Marjana (37) ist kroatischer Abstammung. Zur Familie gehört noch der sechsjährige Giuliano. Eine typische Stuttgarter Familie. Stammheim ist ihre Heimat geworden.

Giulias Eltern sind stolz auf ihre Tochter, doch ihr Verhalten überrascht sie nicht. „Schon im Kindergarten hat sie sich sehr sozial verhalten. Sie setzt sich für schwächere Leute ein“, sagt ihr Vater. „An sich denkt sie dabei immer als Letztes.“ Er selbst hat sich das Helfen zum Prinzip gemacht. Der gelernte Härter arbeitet in der Metallbranche. Wenn es unter den Kollegen ums Thema Flüchtlinge geht und kritische Töne fallen, erhebt er öfter die Stimme und erinnert daran, dass das Menschen sind, die Hilfe benötigen. „Man muss helfen, egal wie hart es ist“, sagt Giulias Vater. Immerhin sei das auch in den neunziger Jahren während des Balkankriegs gelungen, als Zehntausende Flüchtlinge nach Deutschland kamen. Wichtig sei ein „respektvoller Umgang von Mensch zu Mensch“. Gerade auch jetzt.

Eine junge Mutmacherin

Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Die Micolanis sind ein gutes Beispiel dafür. „Dass man nicht wegschauen darf, sondern anderen Menschen helfen soll, hab’ ich von meinen Eltern gelernt“, sagt Giulia am Telefon. „Und im Religionsunterricht!“ Derzeit besucht sie die siebte Klasse der Park-Realschule in Zuffenhausen.

Mit ihrer besten Freundin hat sie über die Rettungstat geredet und von dieser ebenfalls ein dickes Kompliment bekommen – was sie sehr freut. Die verunglückte „Oma“ hat sich bei ihr inzwischen „sehr bedankt“. „Wir werden sie im Krankenhaus besuchen“, sagt Giulia fröhlich-entschlossen ins Telefon, ehe sie sich an ihre Mutter wendet, um eine Bitte des Anrufers weiterzugeben. „Mama, die Zeitung möchte gerne ein Foto von mir machen.“ Sie ist einverstanden. Das Foto zeigt ein Mädchen mit dunklen, strahlenden Augen. Eine junge Mutmacherin.