Sind Urteile zu lasch oder zu hart? In Zeiten, in denen das Misstrauen gegenüber sogenannte Eliten groß ist, steht auch die Rechtsprechung verschärft unter Beobachtung. Vertrauensbildende Maßnahmen werden immer wichtiger.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

München -

 

Der sorgenvolle Blick in die Türkei, nach Polen und Ungarn und auf den in diesen Ländern dramatisch erodierenden Rechtsstaat ist mittlerweile traurige Routine geworden, wenn Richter, Staatsanwälte, Rechtsanwälte und Rechtspolitiker zusammenkommen. Es kann sie nicht kalt lassen, wenn Verfassungsgerichte in ihren Rechten beschnitten werden. Der Juristentag in Essen fand im vergangenen September deutliche Worte zum Abbau der Rechtsstaatlichkeit in der Türkei und zur Verhaftung von Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten in Folge des Putsches in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016. Auch der 22. Richter- und Staatsanwaltstag in Weimar nimmt sich des Themas an. Und bei dem Blick über die Grenzen, der auch nach Vietnam geht, wohin der diesjährige Menschenrechtspreis des Richterbundes vergeben wird, schwingt natürlich immer wie Frage mit, wie stabil der Rechtsstaat in Deutschland ist.

Trotz anderer Ausgangslage als in den genannten Ländern sagt Jörg Gnisa, der Vorsitzende des Richterbundes, im Vorfeld des Weimarer Juristentreffens: „Ich befürchte auch bei uns eine Erosion des Rechtsstaates.“ Als Faktoren nennt er die Emotionalisierung in der Gesellschaft durch Teile der Berichterstattung in den Medien. „Das Recht scheint vom Bürger zunehmend hinterfragt zu werden“, meint Gnisa.

Zu lasche oder zu harte Urteile?

Er verweist auf Umfragen, wonach ein Großteil der Menschen davon ausgeht, die Strafe hänge nicht vom Recht ab, sondern davon, welcher Richter in dem Verfahren urteilt. Daraus abzuleitende Vorwürfe der Willkür und Nachgiebigkeit weist Gnisa jedoch zurück. „Die Justiz ist nicht zu lasch“, betont der Richter. Er bezieht sich damit auch auf die wiederholte Kritik des Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft Rainer Wendt. Solche Äußerung machten der Justiz zu schaffen, berichtet Jörg Gnisa.

Die Urteile zu den Verkehrstoten durch Raserei verdeutlichen das Dilemma: Zwischen der Verurteilung wegen Mordes und wegen Körperverletzung mit Todesfolge bewegen sich die bisherigen vier Urteile. Mal hat die Justiz nach Meinung der Öffentlichkeit zu lasch und mal zu hart reagiert. „Das Recht in Deutschland ist insgesamt unter Druck“, schlussfolgert Gnisa. In einem demokratischen Rechtsstaat sei aber das Recht der einzige Maßstab, der für alle Bürger gelte. Der Ausweg aus der Vertrauenskrise sei mehr Transparenz, davon ist die stellvertretende Richterbundvorsitzende Andrea Titz überzeugt. Sie arbeitet praktisch täglich am Vertrauen in das Recht. Die Funktion als Pressesprecherin des Oberlandesgerichtes München übernahm die Juristin im Frühjahr 2013, als dort regelrecht landunter war. Die Welt schaute damals gespannt auf das Gericht, in dem die Taten des rechtsterroristischen Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) verhandelt werden sollten. In Windeseile waren die 50 Presseplätze vergeben. Obwohl die Mehrzahl der Opfer türkische Staatsangehörige waren, hatte kein einziges türkisches Medium einen der begehrten Plätze bekommen. Mehrere Verfassungsbeschwerden setzten alles wieder auf Anfang. Im zweiten Durchlauf wurden die Plätze nach neuen Kriterien zugeteilt. Ausländische Medien wurden durch die Kontingentlösung berücksichtigt. Doch es blieb weiter eng im Gerichtssaal. Auf eine Videoübertragung in einen anderen Raum wollte sich das Gericht nicht einlassen und erntete für diese Haltung auch Kritik. Andrea Titz hatte also von Anfang an viel zu erklären. „Ich sehe mich in meiner täglichen Arbeit als Übersetzerin komplexer juristischer Zusammenhänge“, sagt sie. Es sei wichtig für die Akzeptanz von Gerichtsentscheidungen, dass man sie Laien verständlich erkläre. Wahrscheinlich ist Titz, die auch noch als Richterin im Bausenat des OLG München tätig ist, wohl Deutschlands bekannteste Erklärerin von Verfahrenabläufen bei Gericht. Was auch daran liegt, dass in München auch der Steuerprozess gegen den FC-Bayern-Manager Dieter Hoeneß und der Bestechungsprozess gegen den damaligen Formel-1-Chef Bernie Eccleston geführt wurden. Nicht immer geht es bei den Anfragen an Titz nur um juristisches Schwarzbrot. „Ich weiß natürlich, was Journalisten von mir erwarten“, sagt sie und bleibt dennoch bei ihrem Prinzip, dass die Angeklagten auf Zeit der Justiz anvertraut sind und auch Schutz genießen. Das verstehe die Öffentlichkeit nicht immer, aber es freue sie, wenn sie auf der Straße angesprochen werde und ihr jemand sage, er habe nach ihrer Erklärung verstanden, was geschehen sei. Öffentlichkeit im Strafverfahren ist also eine ständige Gratwanderung.

Andrea Titz ist Deutschlands bekannteste Rechtserklärerin

Die Staatsanwalt Ingolstadt twittert jetzt

In Weimar moderiert Titz, die alle Foren organisiert hat, das Thema „Transparente Justiz – Menschen am Pranger?“ Die Diskussionsrunde ist unter anderem mit Bettina Limperg, der Präsidentin des Bundesgerichtshofes, und Herbert Landau, dem ehemaligen Richter am Bundesverfassungsgericht, hochkarätig besetzt. Es ist wahrscheinlich, dass Limperg aus ihrer Abneigung gegen Bild- und Tonübertragungen aus den Gerichtssälen in Deutschland keinen Hehl machen wird. Auch Titz steht einer generellen Öffnung ablehnend gegenüber und fragt, ob der Zuschauer alleine durch das Verfolgen einer Gerichtsverhandlung die juristischen Abläufe verstehe.

Aber sie stellt auch die Frage, ob nicht auch die Justiz, wenn sie gehört, verstanden und in der Gesellschaft überhaupt wahrgenommen werden wolle, viel stärker in den sozialen Medien unterwegs sein müsse. Den ersten Schritt habe die Staatsanwaltschaft in Ingolstadt gemacht, die nun auch twittere. Ein Liveticker aus dem Gerichtssaal schwebt Titz allerdings nicht vor. Das scheitere schon allein an den personellen Kapazitäten, sagt sie.