Region: Verena Mayer (ena)

Die Situation ist so: in den 17 baden-württembergischen Gefängnissen sitzen 7000 Häftlinge und arbeiten 3700 Personen in verschiedenen Funktionen. Klingt gut, doch die Praxis, berichtet Alexander Schmid, sieht so aus, dass ein Vollzugsbediensteter für 50 oder noch mehr Häftlinge zuständig ist. Wenn es gut liefe, hätte ein Vollzugsbeamter immer Zeit für ein Gespräch. Damit er immer weiß, was sich jenseits der sichtbaren Strukturen abspielt. Vielleicht brodelt es in einer Ecke des Gangs, weil zwei Häftlinge nicht miteinander können. Vielleicht schikaniert irgendwo ein Bandenboss einen Untergebenen. So ein Wissen kann Schlimmeres verhindern. „Im Knast muss es nicht zu Übergriffen kommen“, sagt Alexander Schmid. Doch dafür brauche es Nähe und Zeit.

 

Aus den Tabellen, die der Gewerkschaftsvorsitzende präsentiert, geht hervor, dass Baden-Württemberg im Vergleich mit anderen Bundesländern 210 Stellen weniger in seinen Justizvollzugsanstalten unterhält. Das sind unter anderem neun Ärzte weniger, fünf Psychologen und 40 Sozialarbeiter. Dieses Jahr gibt das Land aus seinem 44-Milliarden-Euro-Haushalt 208 Millionen Euro für seine Justizvollzugsanstalten aus, nächstes Jahr sollen es 207 Millionen sein. Was das für Alexander Schmid bedeutet? Dass er froh sein muss, wenn das Land keine Stellen streicht.

Sind die Vorstellungen des Ehepaars Bader, das sich um seinen Sohn sorgt, weltfremd? Ist die Haltung des Häftlings Michael Peter verblendet, weil er nicht versteht, dass ein Gefängnis kein Hotel ist? Ist die Forderung des Gewerkschafters Alexander Schmid naiv?

Glaubt man Harald Preusker: Nein! Harald Preusker hat 13 Jahre lang die JVA Bruchsal geleitet. Von 1981 bis 1994 ist das gewesen. Dann wechselte er nach Dresden, wo er bis zu seiner Pensionierung die Leitung der Strafvollzugsverwaltung des Staates Sachsen übernahm. Mit zwei Kollegen hat er vor vier Jahren das Buch „Das Gefängnis als Risikounternehmen“ herausgegeben. Die Autoren setzen sich darin wissenschaftlich mit den Verhältnissen im Knast auseinander.

Der Wunschknast von Harald Preusker

In der Vollzugswelt, die sich Harald Preusker wünscht, wird jedem therapiewilligen und therapiefähigen Gefangenen wenigstens mittelfristig eine Therapie ermöglicht. In dieser Vollzugswelt hat jeder arbeitsfähige Häftling eine produktive Arbeit, für die Beiträge in die Rentenversicherung abgeführt werden, und es gibt einen Personalschlüssel, der für 100 Insassen mindestens 60 Mitarbeiter vorsieht.

Der Sohn ist ein Mörder

Früher haben Baders keine Gespräche geführt über das staatliche Vollzugswesen. Früher haben sie auch keinen Verbrecher gekannt. Allenfalls die Straftäter aus den Gerichtsberichten in der Zeitung streiften ihre Wahrnehmung. „Recht so!“, haben sie gedacht, wenn ein Verbrecher verurteilt wurde. Das war’s.

Dann kam ihr Sohn ins Gefängnis, wegen Mordes, lebenslänglich. Für Baders ist eine Welt zusammengebrochen – und eine neue hat sich geöffnet. Die Eltern haben ihre Adventskaffees vom gemütlichen Wohnzimmer in den gesicherten Gemeinschaftsraum der Justizvollzugsanstalt verlegt. Sie haben begonnen, ihrem Martin beim Fußballspielen zuzuschauen. Wie früher. Nur, dass die Turniere nun auf dem Gefängnissportplatz stattfinden. „Man kann sich mit den Häftlingen ganz normal unterhalten“, hat Elfriede Bader festgestellt, die mit ihrem Mann regelmäßig nach Bruchsal fährt, um den Sohn zu besuchen.

Baders haben erfahren, dass es im Gefängnis Tischtennisplatten gibt und einen Kraftraum. Die Häftlinge können Badminton spielen oder eine Bastelgruppe besuchen oder sich beim Schach und Backgammon die Zeit vertreiben. An Freizeitaktivitäten mangle es nicht, sagt Manfred Bader. Die therapeutischen Angebote hingegen, das hat er auch gelernt, seien sehr dürftig.

Seit fast zehn Jahren sitzt sein Sohn hinter Gittern, doch außer ein paar Gesprächen mit einer Psychologin habe Martin noch keine tiefer gehende Behandlung seiner offensichtlichen Probleme bekommen. „Wie soll sich ein Mensch bessern, wenn er ewig keine Hilfe bekommt?“, fragt Manfred Bader, der noch etwas nicht versteht: „Wie soll ein Mensch in Freiheit bestehen, wenn er fast kein Geld hat?“

Keine Arbeit wegen schlechter Führung

Die Baders wissen, dass es hinter Gittern Arbeitsplätze in zehn verschiedenen Betrieben gibt. Martin Bader zum Beispiel arbeitet in einer Werkstatt. Sozialabgaben führt die Anstalt als Arbeitgeber keine ab. Straftäter haben nach ihrer Entlassung also keinen Anspruch auf Rente. Und die 1700 Euro Überbrückungsgeld, die sie von ihrem Verdienst sparen müssen, reichen bestimmt nicht weit. „Wenn dann niemand da ist, der einen auffängt, ist die nächste Crash-Situation programmiert“, sagt Manfred Bader. Er zahlt für seinen Sohn den Mindestbeitrag in die Rentenkasse. Damit er nach der Haft nicht ganz so hart fällt.

Aber: Wie viele Angehörige können das? Und: Ist es nicht das Ziel des Strafvollzugs, Menschen zu entlassen, die ein eigenständiges Leben in sozialer Verantwortung führen können?

Michael Peter hat fast mehr Jahre seines Lebens in Haft als in Freiheit verbracht. An die Verhältnisse im Gefängnis hat er sich noch immer nicht gewöhnt. Zum Zeitpunkt seines Schreibens gestalten sich die Verhältnisse in Bruchsal für ihn so, dass er wegen schlechter Führung nicht arbeiten darf und deshalb mit einer Art Taschengelnd von 34 Euro im Monat auskommen muss. Davon bezahlt er die Miete für die Fernsehantenne und den Strom. Wenn das Geld dann auch noch für Kaffee, Schokolade und Tabak reicht, kann er zufrieden sein. Die Produkte im Gefängnis sind, wie die Telefonate, um einiges teurer als im normalen Supermarkt. Eine Tafel Ritter Sport zum Beispiel kostet einen Euro. Früher, schreibt Michael Peter, konnten sich die Häftlinge Lebensmittelpakete von draußen schicken lassen. Doch das sei inzwischen abgeschafft worden. Wahrscheinlich zu gefährlich.

Seit dem rätselhaften Hungertod des Bruchsaler Einzelhäftlings gibt es viele solcher Briefe aus der JVA, die an die Zeitung adressiert sind. Ein Absender berichtet, wie Strafvollzugsbedienstete seine Zelle durchsucht und dabei Gegenstände zerstört und beschlagnahmt hätten. Ein anderer schildert, dass er wegen der „willkürlichen“ Entscheidung eines Bediensteten seit Wochen nicht arbeiten dürfe. Ein Häftling beklagt, dass es ewig dauere, bis man beim Gefängnisarzt vorstellig werden darf, der ohnehin ständig wechsle. Und noch ein anderer schreibt, dass in der JVA schimmeliges Brot ausgegeben werde.

Kann man das alles glauben?

Ob man das alles glauben kann? Warum nicht? Hat es sich nicht als wahr erwiesen, dass sich ein Bediensteter in Bruchsal als Häftling verkleidete, von einem Kollegen mit schwarzer Schuhcreme bemalen und an einen Heizkörper fesseln ließ? Und hat sich nicht auch eine Mitarbeiterin schriftlich abfällig über Gefangene geäußert? Andererseits: die Sache mit dem Brot ist schon mal vom Petitionsausschuss des Landtags geprüft – und verworfen worden.

Das Justizministerium hat im Dezember des vergangenen Jahres ausgeführt, dass landesweit gegen zwölf Gefängnismitarbeiter ermittelt wird und gegen 22 Beamte Disziplinarverfahren anhängig sind. Das entspricht jeweils deutlich weniger als einem Prozent der Belegschaft. Nicht viel also. Aber vielleicht trotzdem zu viel.

Michael Peter wird das Gefühl nicht los, hinter Gitter ein Mensch zweiter Klasse zu sein. „Manchmal kann man sich bemühen, wie man will, man kommt nicht voran.“

Alexander Schmid ist einer von denen, die landläufig Wärter genannt werden. Das klingt nach Zellen öffnen, Insassen füttern, Zellen schließen. Und es passt zum Image dieses Berufsbilds. Wärter, das sind ja auch die, die Häftlinge nackt durchsuchen, und die manchmal sogar deren Post öffnen.

Alexander Schmid ist aber auch einer von denen, die kämpfen. Er ist ehrenamtlicher Vorsitzender des Bundes der Strafvollzugsbediensteten Deutschlands (BSBD) in Baden-Württemberg und wiederholt nicht nur unermüdlich, dass es im Gefängnis keine Wärter, sondern eben Strafvollzugsbedienstete gibt. Er versucht auch zu erklären, warum es manchmal „Durchsuchungen mit Entkleidung“ geben muss und „Briefzensur“: Weil niemand verstehen würde, wie einer eine Rasierklinge in den Gerichtssaal schmuggeln konnte. Zum Beispiel. Und weil es schon unendlich oft vorgekommen sei, dass unter dem Klebefalz des Briefumschlags Heroin versteckt war. „Die Leute lassen sich unglaublich viel einfallen“, sagt Alexander Schmid, der froh und traurig zugleich ist, wenn die Welt hinter den Mauern mal wieder von einer aufgeregten Öffentlichkeit ausgeleuchtet wird. Immerhin kann er dann auf die Situation hier aufmerksam machen.

Ein Vollzugsbeamter für 50 Häftlinge

Die Situation ist so: in den 17 baden-württembergischen Gefängnissen sitzen 7000 Häftlinge und arbeiten 3700 Personen in verschiedenen Funktionen. Klingt gut, doch die Praxis, berichtet Alexander Schmid, sieht so aus, dass ein Vollzugsbediensteter für 50 oder noch mehr Häftlinge zuständig ist. Wenn es gut liefe, hätte ein Vollzugsbeamter immer Zeit für ein Gespräch. Damit er immer weiß, was sich jenseits der sichtbaren Strukturen abspielt. Vielleicht brodelt es in einer Ecke des Gangs, weil zwei Häftlinge nicht miteinander können. Vielleicht schikaniert irgendwo ein Bandenboss einen Untergebenen. So ein Wissen kann Schlimmeres verhindern. „Im Knast muss es nicht zu Übergriffen kommen“, sagt Alexander Schmid. Doch dafür brauche es Nähe und Zeit.

Aus den Tabellen, die der Gewerkschaftsvorsitzende präsentiert, geht hervor, dass Baden-Württemberg im Vergleich mit anderen Bundesländern 210 Stellen weniger in seinen Justizvollzugsanstalten unterhält. Das sind unter anderem neun Ärzte weniger, fünf Psychologen und 40 Sozialarbeiter. Dieses Jahr gibt das Land aus seinem 44-Milliarden-Euro-Haushalt 208 Millionen Euro für seine Justizvollzugsanstalten aus, nächstes Jahr sollen es 207 Millionen sein. Was das für Alexander Schmid bedeutet? Dass er froh sein muss, wenn das Land keine Stellen streicht.

Sind die Vorstellungen des Ehepaars Bader, das sich um seinen Sohn sorgt, weltfremd? Ist die Haltung des Häftlings Michael Peter verblendet, weil er nicht versteht, dass ein Gefängnis kein Hotel ist? Ist die Forderung des Gewerkschafters Alexander Schmid naiv?

Glaubt man Harald Preusker: Nein! Harald Preusker hat 13 Jahre lang die JVA Bruchsal geleitet. Von 1981 bis 1994 ist das gewesen. Dann wechselte er nach Dresden, wo er bis zu seiner Pensionierung die Leitung der Strafvollzugsverwaltung des Staates Sachsen übernahm. Mit zwei Kollegen hat er vor vier Jahren das Buch „Das Gefängnis als Risikounternehmen“ herausgegeben. Die Autoren setzen sich darin wissenschaftlich mit den Verhältnissen im Knast auseinander.

Der Wunschknast von Harald Preusker

In der Vollzugswelt, die sich Harald Preusker wünscht, wird jedem therapiewilligen und therapiefähigen Gefangenen wenigstens mittelfristig eine Therapie ermöglicht. In dieser Vollzugswelt hat jeder arbeitsfähige Häftling eine produktive Arbeit, für die Beiträge in die Rentenversicherung abgeführt werden, und es gibt einen Personalschlüssel, der für 100 Insassen mindestens 60 Mitarbeiter vorsieht.

In dieser Vollzugswelt werden die Häftlinge so gut wie möglich auf ihr neues Leben in Freiheit vorbereitet, in dem sie keine Straftaten mehr begehen. Es ist eine Welt, in der die Resozialisierung wichtiger genommen wird als heute. Und bestimmt erfolgreicher wäre, prophezeit Harald Preusker, der die Leitung seiner ersten JVA (1976 in Konstanz) zu einer Zeit übernahm, in der Häftlinge den Status „Staatsbürger hinter Gittern“ bekamen.

Ist es also tatsächlich denkbar, dass Gefängnisse nicht mehr nur dann auffallen, wenn etwas Schlimmes passiert? Und dass Gefangene nicht sofort aus dem Sinn fallen, sind sie erst mal aus den Augen?

Harald Preusker ist skeptisch: Es würden wohl weiterhin Milliarden in das bestehende System gepumpt, schreibt er in seinem Buch. Weil es höchst zweifelhaft sei, „ob der Staat und unsere Mitbürger bereit sind, diesen neuen Vollzug zu finanzieren“.

Der Gewerkschaftsvorsitzende Alexander Schmid hat vorigen Herbst 100 neue Stellen gefordert. Er hofft, dass sie im nächsten Nachtragshaushalt des Landes bewilligt werden. Dass das nur „ein Tropfen auf den heißen Stein“ wäre, weiß Schmid. Aber nichts ist besser als gar nichts.

Manfred und Elfriede Bader sagen, es müsste doch in jedermanns Interesse sein, dass Häftlinge so früh wie möglich resozialisiert werden. Früher haben sich Baders nicht mit solchen Themen beschäftigt, weil sie weit weg von ihnen waren. „Aber die, die damit an entscheidender Stelle befasst sind, die wissen das und tun nichts“, schimpft Manfred Bader heute. Diese Kurzsichtigkeit ärgert ihn.

Und der Häftling Michael Peter schließt seinen Brief mit einem Zitat von Paulo Coelho: „Der Krieger des Lichts versucht herauszufinden, worauf er sich verlassen kann, und überprüft immer wieder seine Ausrüstung, die aus drei Dingen besteht: Glaube, Liebe, Hoffnung.“