Im dritten und letzten Band seiner monumentalen Kafka-Biographie beschreibt Reiner Stach die frühen Jahre – und erweist sich abermals als ein grandioser Erzähler.

Stuttgart - Jetzt ist es also geschafft. Nach zweitausend Seiten, drei Bänden und zwölf Jahren ist dieses monumentale Biografie-Projekt von Reiner Stach zu seinem glücklichen Abschluss gekommen. Aber braucht es überhaupt eine Biografie von Franz Kafka? Franz Kafka schrieb zumindest selbst in seinem Tagebuch Ende 1911: „Meinem Verlangen eine Selbstbiographie zu schreiben, würde ich jedenfalls in dem Augenblick, der mich vom Bureau befreite, sofort nachkommen.“

 

Reiner Stach taucht gewissermaßen im Sturzflug in das Leben Kafkas ein und schildert allein den Tag seiner Geburt, den 3. Juli 1883, so dicht und plastisch, dass man tatsächlich glaubt, den warmen Wind dieses heißen Sommertages zu spüren. Reiner Stach will eben mehr als nur wissen, er will „erleben“. Wie mit einem Zoom holt er daher immer wieder Ereignisse heran, beschreibt eine Fülle von Details und versetzt den Leser so mitten in die Szenerie. So sind auch die kulturgeschichtlichen Kapitel über Prag äußerst gelungen. Kafkas Kindheit war geprägt von den wachsenden nationalen Spannungen zwischen Tschechen und Deutschen und die Prager Juden immer dazwischen. „Deutsch ist meine Muttersprache und deshalb mir natürlich“, schrieb Franz Kafka 1920 an Milena Jesenská, „aber das Tschechische ist mir viel herzlicher.“

Vergnügungen in Weinstuben und Bordellen

Reiner Stach kann in seiner Beschreibung von Kafkas Familienverhältnissen auf viele Vorarbeiten aufbauen. Allein über dessen Vater-Beziehung wurden unendlich viele Studien verfasst. Stach beschränkt sich erfreulicherweise auf das Notwendige und zeigt Kafka so, wie ihn seine Zeitgenossen in jenen Jahren wahrnahmen. Er lässt ihn dadurch lebendig werden als noch unfertigen, jungen Mann, der großes Einfühlungsvermögen besitzt, aber durchaus auch albern sein konnte, manchmal sogar mit einem Zug von Boshaftigkeit, und der sich bisweilen tyrannisch gegenüber seinen Schwestern verhielt. Varieté, Operette, Kino, Weinstuben und Bordellbesuche gehörten ebenso zu seinen Junggesellenzerstreuungen. Er war auch keineswegs ein Genie und musste sich ziemlich anstrengen für sein Jurastudium. Zuvor wollte er Chemie studieren, gab es aber schnell auf. Das Zeichnen interessierte ihn anfangs sogar mehr als die Literatur. Nichts deutete darauf hin, dass aus ihm einmal ein bedeutender Schriftsteller werden sollte.

An diesem Band der frühen Jahre bis 1911 interessiert natürlich die Éducation sentimentale des jungen Kafka, seine ersten Liebesbegegnungen. Von der ersten, zarten im Herbst 1900 weiß man nur durch den Bericht von Selma Robitschek, den sie 55 Jahre nach diesem Erlebnis an Max Brod schickte. Über seine erste sexuelle Erfahrung an einem heißen Sommertag 1903 mit einem Ladenmädchen weiß man wiederum nur aus einem Brief an Milena Jesenská, in dem er ihr 17 Jahre danach den Ursprung seiner sexuellen Nöte erklären wollte. Ein anderes Geständnis machte er gegenüber Felice Bauer, kurz bevor er ihr einen Heiratsantrag machte: „Geliebt, dass es mich geschüttelt hat, habe ich vielleicht nur eine Frau.“ Und er meint nicht Felice Bauer. Die Episode, auf die sich seine Worte beziehen, hat sich wohl 1905/1906 in Zuckmantel abgespielt. Sie bleibt ein absolut weißer Fleck in Kafkas Biografie.

Liebe zu einem „grotesk hässlichen“ Mädchen

Hier zeigt sich eine grundsätzliche Problematik, denn wenn es Kafka gutgeht, er sich dem Leben überlässt, dann, so schreibt Stach selbst, „hört er eben auf zu erzählen, er schreibt in Kürzeln oder gar nicht“. Eine Biografie, die aber vor allem auf Selbstzeugnisse angewiesen ist, gerät hier unwillkürlich in Schieflage, wird doch der neurotische, hypochondrische und unglückliche Kafka ungleich stärker gewichtet. „Selbst im Zustand sexueller Erregung“ bei den Prostituierten, mutmaßt Stach, sei Kafka „außerstande“, anderes als die Desillusionierung wahrzunehmen. Dass sich Dr. Franz Kafka auch einmal nur seinen Begierden überlassen hätte und, ohne hinterher weitere Gedanken daran zu verschwenden, die Hose zuknöpfte – undenkbar!

Befremdlich ist, dass Stach der Beziehung zu Hedwig Weiler so wenig Beachtung schenkt. Für ihn ist es sogar „gewiss“, dass diese Begegnung weniger bedeutsam gewesen sei als mit jener unbekannten Frau in Zuckmantel. Kafka lernte Hedwig Weiler 1907 bei einem Ferienaufenthalt kennen und beschreibt sie in einem Brief an Max Brod als grotesk hässliches Mädchen, um aber damit zu enden, dass er sich gerade deswegen in sie verliebt habe. Schaut man sich Fotografien von Hedwig Weiler an, wundert man sich. Denn nichts von seiner Beschreibung trifft zu. Hedwig Weiler war eine junge emanzipierte Frau mit starken, sozialdemokratischen Überzeugungen und promovierte 1914 in Wien über Franz Grillparzer. Welcher Art ihre Beziehung war, erschließt sich aus Kafkas Briefen nicht.

Zweifel an der ersten Nacht

Die ersten Briefe an sie wirken reichlich überspannt. Kafka experimentierte mit literarischen Techniken, und es ist gut möglich, dass wir sie wiederum in der ersten Fassung seiner Novelle „Beschreibung eines Kampfes“ wiederfinden als „das liebe Fräulein“, dem der Ich-Erzähler so gar nicht imponieren will. Sie wirft ihm seine papierene Existenz vor, und diese Episode strich Kafka später. Etwas muss 1909 zwischen den beiden vorgefallen sein. In dem vorletzten Brief an Hedwig Weiler fallen die Wörter Lüge und Ekel, den sie womöglich empfinden könnte. Kafka hatte zu dieser Zeit gleichzeitig Verhältnisse mit Kellnerinnen und Prostituierten. Möglicherweise schwieg die engagierte Sozialdemokratin dazu nicht, wie es ansonsten von den Frauen erwartet wurde.

Was Stach ganz und gar ausblendet: Hedwig Weiler ähnelt als emanzipierte moderne Frau frappant Felice Bauer. Hier probierte Kafka schon aus, was er seinem Freund Max Brod später 1912 als Gedankenspiel anvertraute: „Wenn es wahr wäre, dass man Mädchen mit der Schrift binden kann?“ Kurz darauf traf er Felice Bauer und begann eine für die Literatur folgenreiche Briefproduktion. Briefe, die verführen und an ihn binden sollten, die vor allem aber immer schon auch als literarische Texte gedacht worden waren. Nur ein Beispiel. Fand die von ihm gegenüber Milena Jesenská geschilderte erste Nacht mit einer Frau, die Stach so bildreich überzeugend erzählt, tatsächlich je so statt? Oder ist sie nicht ganz und gar erfunden? Wir wissen es nicht. Denn es gibt keinen weiteren Beleg dafür. Nur ein einziger Brief existiert aus diesem besagten Sommer 1903 an seinen damals engsten Freund Oskar Pollak. Aber keine Andeutung darin, im Gegenteil, die „blauen Hoffnungen“, mit denen er in diesen Sommer ging, von all diesen „Wunderdingen“ brachte ihm der Sommer nichts.

Reiner Stach kann hinreißend erzählen, aber man sollte sich hüten, den Schluss daraus zu ziehen: genau so war es und nicht anders. Punktum.

Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre.
S. Fischer Verlag, 608 Seiten, 34 Euro.

Termin
Am 24. November um 19.30 Uhr stellt Reiner Stach sein Buch im Humboldt-Saal des Deutschen Literaturarchivs in Marbach vor.