Vorsatz oder Fahrlässigkeit, Absicht oder Versehen: Diese Unterscheidung ist vor Gericht entscheidend für das Strafmaß. Kann der Blick ins Gehirn eines Verbrechers dessen Motivation offenbaren? Britische Forscher haben das untersucht.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

London/Stuttgart - Noch ist es nicht so weit. Noch steht nicht das Gehirn vor Gericht. Noch sind Hirnscans von Verbrechern nicht für eine Verurteilung zulässig. Wenn man das amoralische Bewusstsein, die Schuldgefühle oder die völlige Apathie gegenüber dem Leid anderer neurologisch in den Gehirnarealen nachweisen könnte, wäre die Beweisführung gegen Kriminelle sehr viel einfacher. Doch zu einer Verurteilung aufgrund von gemessenen Hirnströmen und Magnetresonanz-Tomographie (MRT)-Aufnahmen wird es wahrscheinlich nicht kommen.

 

Hirnscans als Beweismittel vor Gericht

Die Frage, ob ein Angeklagter wissentlich und mit voller Absicht sein Verbrechen begangen hat oder nicht, ist für die Urteilsfindung und das Strafmaß vor Gericht entscheidend. Forscher des University College London haben jetzt einen wichtigen Beitrag in dieser Debatte geleistet. „Predicting the knowledge-recklessness distinction in the human brain“ (Vorhersage über die Wissen-Rücksichtslosigkeit-Unterscheidung im menschlichen Gehirn) heißt der Titel ihrer Studie, die im renommierten PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America) erschienen ist.

Für das Experiment wurden 40 Probanden gebeten, einen Koffer mit illegalen Drogen über die Grenze zu schmuggeln. Der Koffer war natürlich rein fiktiv. Es ging nur darum die Vorgänge im Gehirn mittels MRT zu messen.

Blick in Schmuggler-Hirne

Was geht in den grauen Zellen eines Menschen vor, wenn er sich auf ein kriminelles Abenteuer einlässt? Die Versuchskaninchen mussten mehrere Schmuggelversuche unternehmen. Mal war enthielt ihr Koffer Schmuggelware, mal wurden sie im Unklaren gelassen, ob sich darin tatsächlich Drogen verbargen. „Wir haben die Probanden so entweder in eine Situation des Wissens gebracht oder aber in eine bloß riskante, fahrlässige Situation“, sagt die Hirnforscher Iris Vilares.

Der Blick in die Denkorgane der „Schmuggler“ offenbarte Erstaunliches: Wenn sich die Teilnehmer dafür entschieden wissentlich zu schmuggeln, reagierte ihr Gehirn anders, als wenn sie bloß das Risiko für einen Gesetzesverstoß in Kauf nehmen mussten. Die Muster der aktivierten Hirnareale unterschied sich deutlich voneinander. „Wir konnten allein anhand dieses Aktivitätsmusters mit hoher Genauigkeit vorhersagen, ob ein Proband sicher Bescheid wusste oder bloß waghalsig handelte“, erklärt Vilares. In rund 70 Prozent aller Situationen reichte ein Blick auf den Hirnscan, um zu rekonstruieren, was im jeweiligen Hirn konkret vor sich geht.

Mentaler Zustand und Kriminalität

„Damit belegt unsere Studie, dass man auf Basis von Hirnscans im Prinzip vorherzusagen kann, in welchem juristisch definierten Zustand eine Person eine Tat begeht“, so das Fazit der Forscher. Die mit dem bildgebenden MRT-Verfahren deutlich sichtbaren Unterschiede in der Hirnaktivität belegen somit, dass die juristische Unterscheidung von Absicht und Fahrlässigkeit, Vorsatz und Affekt tatsächlich ein neurologisches Äquivalent hat.

So klar die neurowissenschaftlichen Ergebnisse auch sind, die Experten sind sich im klaren, dass man Straftäter nicht allein auf der Grundlage von MRT-Scans verurteilen kann. Zum einen tritt die Fallunterscheidung, ob etwas aus Absicht oder spontan geschehen ist, auch in anderen, nicht-strafbaren Fällen auf. „Es wäre daher absurd, den mentalen Zustand eines Angeklagten allein auf die Klassifikation seiner Hirndaten zu reduzieren“, so die Forscher.

Zum anderen wurde die Hirnaktivität unter Laborbedingungen getestet. Der Denkapparat wurde durchleuchtet, als die Hirne der Täter aktiv waren und über Verbotenes nachdachten. „Bisher wissen wir nicht, ob es prinzipiell auch möglich ist, den mentalen Zustand einer Person auch Minuten, Stunden oder gar Tage nach einer Tat mittels Hirnscans zu rekonstruieren.“

Fazit: Faktoren für Straffähigkeit

Dennoch haben die Erkenntnisse nach Ansicht des Londoner Wissenschaftler-Teams eine strafrechtliche Relevanz. Belegen sie doch, dass Absicht und Fahrlässigkeit keine theoretischen juristischen Kategorien sind, sondern realen geistigen Zuständen entsprechen. „Diese beiden legalen Konzepte sind im menschlichen Gehirn klar repräsentiert“, so die Forscher weiter. „Das ist ein großer Fortschritt in einem Gebiet, in dem bisher das Gesetz nur raten konnte, ob und wie bestimmte mentale Zustände die Straffähigkeit beeinflussen.“

Vermessung des Bösen

Neurokriminologie

Die Vermessung des Bösen mit Hilfe von Hirnscans ist eines der spannendsten Kapitel der Neurokriminologie, einer noch jungen Wissenschaft. Hirnforscher wie der Deutsche Gerhard Roth und die beiden Amerikaner Adrian Raine und James Fallon sind einige der Koryphäen, die sich mit solchen Fragen beschäftigen.

Hirnscanner werden vielfältig eingesetzt, um neue Wege in der Psychiatrie und Forensik zu beschreiten. So versuchen Forscher mit Hilfe von Hirnscans psychische Störungen wie Depression, Paranoia oder Schizophrenie aufzuspüren.

Weder Verbrecher-Gen noch neuronale Disposition

Einig sind sich die meisten Experten darin, dass Gewalt nicht auf eine psychisch-neuronale Ursache oder ein bestimmtes Verbrecher-Gen zurückgeführt werden kann. Denn träfe diese These zu, würde dies die individuelle Verantwortlichkeit, den freien Willen und den gesamten Moralkodex aushöhlen. Weder genetische Vorbelastungen noch veränderte Hirnfunktionen allein können erklären, warum ein Mensch zum Soziopathen und zur reißenden Bestie wird. Niemand ist in dem Sinne zum Verbrecher geboren, dass die Biologie für ihn zur Determination und zum Schicksal wird.

„Den Mörder gibt es nicht“

„Den Mörder gibt es nicht“, unterstreicht die Kriminologin Britta Bannenberg. „Motive sind sehr unterschiedlich, Persönlichkeiten auch.“ Auch die Umwelt hinterlasse ihre Spuren, betont die Strafrechtlerin. Ob jemand in extrem gewalttätiger Form agiere, habe auch damit zu tun, in welchem Umfeld er aufwächst – also mit seiner Sozialisation.