Wenn die italienischen Katholiken zur Karfreitagsprozession laden, wird der Kurpark in Bad Cannstatt zum Ölberg und nicht nur die Schauspieler fühlen sich in ihre Heimat zurückversetzt.

Stuttgart - Am Karfreitag wird Michele Annunziata zum fünften Mal gekreuzigt. Allerdings nicht auf dem Ölberg, sondern im Kurpark von Bad Cannstatt. Die italienischen Katholiken pflegen in Stuttgart seit 35 Jahren eine Tradition, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben. „In Süditalien stellt noch das kleinste Dorf eine Karfreitagprozession auf die Beine“, erzählt der Elektromechaniker Michele Annunziata, der stolz ist auf den Ableger in Bad Cannstatt. „In meiner Kindheit in der Provinz Neapel habe ich die Jesus-Darsteller bewundert, heute trage ich selbst das 30 Kilogramm schwere Holzkreuz.“ Als Jesus spricht Annunziata nur Italienisch und ist überzeugt, dass ihn die Zuschauer verstehen, auch wenn sie keine Italiener sind.

 

Längst haben die Organisatoren der Karfreitagsprozession Zugeständnisse gemacht. Seit mehr als 15 Jahren wird zweisprachig gebetet, auch die Chronik der biblischen Ereignisse wird in Italienisch und Deutsch vorgetragen. „Wir haben eine eigene Stuttgarter Tradition entwickelt“, sagt Daniele Sartori, der sich als einer von drei Patres um die 10 000 Stuttgarter Katholiken mit italienischen Wurzeln kümmert. Sartori hat das, wovon viele seiner deutschen Kollegen träumen können: junge, engagierte Ehrenamtliche, gut besuchte Sonntags-Gottesdienste und eine Karfreitagsprozession, die seinen Gemeinden viel öffentliche Aufmerksamkeit sichert. Und er hat keine Angst, irgendwann einer überalterten Gemeinschaft vorzustehen. „Bei den Italienern ist die Bindung an die katholische Kirche stärker als bei den Deutschen.“ Deshalb kann er sicher sein, dass etwa die Ehekurse, die er dreimal im Jahr anbietet, immer ausgebucht sind. Und er kann davon ausgehen, dass die Zahl der Beerdigungen die der Taufen nicht übersteigt.

Während der Proben darf gescherzt werden

„Sobald ich das Gewand anziehe, bin ich ein anderer Mensch. Ich versuche zu fühlen, was Jesus durchgemacht hat“, erzählt Michele Annunziata. Während der Fastenzeit probt er zusammen mit 70 anderen Laienschauspielern jeden Sonntag für die Passionsgeschichte. Auf dem Weg vom Kurpark durch die Cannstatter Altstadt wird der Jesus-Darsteller, fürs Erste noch im Freizeitlook, von Judas geküsst, von römischen Soldaten verhaftet und zum Tode verurteilt. Während der Proben darf gescherzt und geplaudert werden, am Karfreitag nicht mehr. „Da ermahne ich die Darsteller zu großem Ernst. Wir vermitteln die Botschaft des Evangeliums“, sagt der Regisseur Angelo Attademo. Der Gabelstaplerfahrer ist gläubiger Katholik, überzeugter Schwabe, aber eben auch Italiener. „Bei der Prozession fühle ich mich wie in meiner Kindheit. Das ist wunderbar.“

Für Rosa Craba ist nicht nur die Passionsgeschichte eine Reise in die Vergangenheit, sondern auch die Treffen mit den italienischen Frauen in der Küche unter der Kirche St. Georg im Stuttgarter Norden. Dort backen die Frauen jedes Jahr vor Ostern 200 Lämmer. Es duftet nach Zuckerbäckerei, die Stimmung ist heiter, die Lebensgeschichten der Frauen sind es nicht unbedingt. „In Sardinien haben wir Brot gebacken und bunte Eier drauf gelegt“, erzählt Rosa Craba, deren Kinder und Enkel in Italien leben. Die 61-Jährige ist ohne Kinder nach Deutschland gekommen, sie hat nie mit ihnen zusammengelebt. „Schauen Sie, wie dünn meine Haare sind. Ich habe viel geweint und mir die Haare gerauft“, sagt die Putzfrau. In einer solchen Situation müsse man beten. Trost findet sie noch immer in der Gemeinde.

„Die Migranten müssen das Recht haben, in ihrer Sprache den Glauben zu erleben“, sagt Pater Daniele. Er meint damit nicht nur Frauen wie Rosa Craba, deren Deutsch gebrochen ist, sondern auch Menschen wie Maria-Luisa Voi-Meyer. Die 45-Jährige ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, sie arbeitet im Pfarramt von Sankt Georg, aber auch in dem von San Giorgio. Wie viele der jüngeren Generation fühlt sie sich ihrer deutschen Gemeinde genauso zugehörig wie der italienischen. „Viele Kinder feiern die Erstkommunion in den deutschen Gemeinden, die Familien kommen aber trotzdem in den italienischen Gottesdienst“, erzählt Pater Daniele.

Maria-Luisa Voi-Meyer kennt nur die Cannstatter Prozession und freut sich, dass sie erstmals als Heilige Veronika dabei sein kann. Die 45-Jährige ist es, die dem unter der Last des Kreuzes zusammenbrechenden Jesus das Blut aus dem Gesicht wischt. Schon jetzt weiß die 45-Jährige, dass sie im nächsten Jahr wieder dabei sein will.

Genauso wie Michele Annunziata, der sich ohnehin von keiner Widrigkeit abhalten lässt. Vor fünf Jahren wurde der Elektromonteur bei Minusgraden am Karfreitag mit einer Unterkühlung vom Kreuz heruntergeholt. Sein Kommentar: Im nächsten Jahr wolle er wieder Jesus sein. „Am Ende der Prozession kommen Frauen zu mir und küssen mir die Hand. Da weiß ich, ich habe die Menschen berührt.“