Ein schöner Traditionsbruch: Karin Bergmann ist die erste Frau, die es an die Spitze des Wiener Burgtheaters geschafft hat. Als Nachfolgerin von Matthias Hartmann hat sie das Haus aus seiner Depression geholt. Ein Besuch im Direktorenbüro.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - „Schau, die Kauschka“, sagt der Mann in Reihe drei, Mitte, im Wiener Burgtheater zu seiner Begleitung, „die Kauschka war Jahrgang 49, manchmal geht dös schnö.“ Der Mann ist um etliches älter als Jahrgang 49, und so sehr er den Tod der Theaterfreundin Kauschka im Folgenden bedauert, so sehr freut er sich doch auch auf seinen Aboabend. Obwohl . . .

 

„Außer der Poelnitz kenn I keinen“, sagt der Mann, und was er meint, ist, dass, abgesehen von der Darstellerin Christiane von Poelnitz, ihm vom Besetzungszettel her keiner aus dem Ensemble recht etwas sagt. Auf dem Spielplan im Übrigen Elfriede Jelineks aufwühlendes Stück „Die Schutzbefohlenen“, ein Drama über lauter Heimatlose, streng antikisierend; längst fertig war es letztes Jahr vor dem, was jetzt Flüchtlingskrise heißt. „No jo“, sagt der Mann, „gemma schau’n!“

Anderthalb Stunden später ist die Skepsis ziemlicher Begeisterung gewichen. Reihe drei Mitte applaudiert, wie das ganze Haus, zu zweit geschlossen und trotz „traktierter Knie“ auf beiden Seiten im Stehen. „Ich bin doch“, sagt der Mann im Rausgehen später noch, „sehr froh über diesen Abend. Sehr froh.“

Karin Bergmann, die Burgtheater-Direktorin, ist ebenfalls sehr froh über diesen Abend, auch wenn der Saal mit lediglich zwei Dritteln der 1200 Plätze verkauft gewesen ist, denn „Die Schutzbefohlenen“ seien nun mal ein „Statement“, und Bergmann hat für den Text gekämpft bei ihrer Übernahme des Burgtheaters vor zwei Jahren: halb über Nacht kam die Sache damals auf sie zu – und sie ziemlich vollständig aus ihrem vorläufigen Ruhestand heraus. Bergmann war im März 2014 eine Frau von sechzig Jahren, als der österreichische Kulturminister Josef Ostermayer sie bat, das hochverschuldete und künstlerisch schwer verwundet schnaufende Burgtheater zu retten. Wer hätte Nein sagen können? Karin Bergmann jedenfalls nicht. Also stellte sie sich daheim vor den Badezimmerspiegel, wie öfter mal, und übte das Eigencoaching im Selbstgespräch: „Bergmann, du schaffst das!“

Ihr Büro: ein einladendes Du

Ohne Büroeinrichtungen überbewerten zu wollen, erzählen sie doch eine Menge über die Menschen, die sich in ihnen bewegen: Bergmanns grandios gescheiterter Vorgänger Matthias Hartmann beispielsweise hatte seinen gigantischen Schreibtisch derart quer in den Raum gestellt, dass man schon versucht war, allein zum Möbel „Sie“ zu sagen, ehe der Direktor vor allem das Pronomen „Ich“ benutzte. Ichichich. Bergmanns Interieur, insgesamt bunter, fröhlicher und viel mehr Raum für Gäste lassend, spricht eher vom Gegenteil: Du. An der Wand hängen die Bilder der Ensemblemitglieder, am Rand ein großer Toter, als spiele er noch mit: Gert Voss. Als Voss vor anderthalb Jahren beerdigt wurde, hatte Bergmann erst einen Interimsvertrag und dirigierte dennoch die Feier, bei welcher der Sarg einmal ums Burgtheater getragen wird, ganz selbstverständlich als Mutter der Kompanie: „Vielleicht würde ich gar nicht hier stehen, wenn ich nicht so viel von ihm über den Schauspielerberuf gelernt hätte“, sagte sie damals, und es war kein schön tuendes Zunftgesäusel, sondern ihr voller Ernst. Und die Wahrheit.

Karin Bergmann aus Recklinghausen – der Familienname ist Programm, denn tatsächlich arbeitete der Vater unter Tage („also keinerlei bildungsbürgerlicher Background“) – hatte mit zehn Jahren schon immer sehnsüchtig auf den Bücherbus gewartet, der durch Recklinghausen fuhr und  Träume transportierte. Andererseits „macht Literatur aber auch einsam“, wie Bergmann heute sagt. Sie hat das früh gemerkt und sich wohler gefühlt, als sie die „Gefühle, die einem durchs Leben helfen können, in einem Raum mit anderen zusammen zu teilen“ vermochte. Mithin im Theater. Und das war dann, zu ziemlich allererst, bei den Ruhrfestspielen „Die heilige Johanna der Schlachthöfe“, wo in Bert Brechts Lehrstück die Hauptfigur Johanna Dark, ungeachtet ihres Scheiterns am Brutalkapitalismus in Chicago, unter anderem den schönen Satz hinterlässt: „Betrachten Sie doch einfach den Dienst am Nächsten als Dienst am Kunden!“

Peymann spielte den gekränkten Liebhaber

Es war das Medium, das Bergmann sofort eingeleuchtet hat, und nach dem zweiten Bildungsweg hätte sie alles drum gegeben, am Theater zu landen, „wenn nicht in der Dramaturgie“, von der sie sich „irgendwas mit Büchern“ versprochen hatte, dann „als Beleuchterin, egal“. Geworden ist sie schließlich 1979 Direktionsassistentin bei Claus Peymann in Bochum, der sie später – nach einem Zwischenspiel bei Peter Zadek in Hamburg – auch mit nach Wien an die Burg genommen hat. Als sie ihm nach sechs Jahren kündigte, spielte Peymann den gekränkten Liebhaber. Sie käme ja eh wieder, stellte er mit aller möglichen Peymann’schen Arroganz fest. Und Karin Bergmann dachte: „Lieber gehe ich putzen!“ (Was sie dann aber doch nicht musste).

Dass sie ihrem alten Chef, der naturgemäß ihr Haus immer noch als seines betrachtet und sich in Interviews noch einmal als der verkannteste Kaiser von Österreich seit Joseph II. inszenierte, gerade erst die Burg überließ, um die Uraufführung von Peter Handkes neuem Stück zu besorgen – dieses Verhalten der Direktorin ist, so  gesehen, schon ziemlich generös. Und wenn schon, meint Karin Bergmann. Männer sähen meistens sich, Frauen sähen über sich hinaus. Und, ja, sie kennt das ganze Zadek-Zampano-Gehabe und die Potenz- und Pubertätsprotzereien der Postachtundsechziger in- und auswendig.

Andererseits: Wer hat überlebt? Eine Frau an der Spitze der Burg. Zäh, charmant, offen: zu fast jeder Zeit kann fast jeder, der will, in dieses Büro mit dem sagenhaften Ausblick auf den Hofgarten kommen, muss sich jedoch auch darauf gefasst machen, dass Karin Bergmann ihm die Wahrheit zumutet. Einer der größten Männerfehler sei ja, sagt sie, jemandem schönzutun, damit er einen dann in der Chefrolle nicht kritisiere. Das kann sie nun gar nicht brauchen. Und auch darüber wolle sie sich nichts vormachen, sagt Bergmann: Begabung habe im Schauspielergewerbe nun mal nichts mit Charakter zu tun.

Sie spart bei sich selber – und kürzt sich ihr Gehalt

In der Vorstellung, so ist es dann aber auch wieder, vergisst Karin Bergmann auch nach all den Jahren schon noch öfter, wer sie eigentlich sein muss. Vom Gefühl her ist sie dann Publikum, anno Recklinghausen, zumindest war es so, als im Wiener Akademietheater im September 2014 „Die lächerliche Finsternis“ von Wolfram Lotz herauskam, in dem Joseph Conrads Roman „Herz der Finsternis“ fortgeschrieben wird. Bergmann hatte Glück gehabt: Das Stück ging zum Theatertreffen nach Berlin, und Stefanie Reinsperger, eine begnadete Akteurin, die es hoffentlich nicht zerreißen wird vor Aktivität in der nächsten Zeit, wurde sofort zur Schauspielerin des Jahres gewählt. Und Karin Bergmann? Saß in besagter Reihe fünf und klatschte und war hin und weg. „Bis ich dachte: Das ist ja dein Theater. Deins.“

Ein Impresario, das sei sie noch am ehesten, sagt sie. Kulturmanagerin klingt ihr zu glatt, nichtregieführende Intendantin zu umständlich. Und sie sei, natürlich, nicht nur nett, ergänzt Karin Bergmann, wie könne sie’s sein in einer solchen Position? Aufgeschrieben, was auch zum Burgtheaterdirektorinnenschattendasein gehört, hat zuletzt Bibiana Zeller, als sie ihre Memoiren mit dem bezeichnenden Titel „Bitte lasst mich mitspielen“ veröffentlichte: In einem Brief habe man ihr mitgeteilt, dass sie nach vier Jahrzehnten am Haus von nun an als „Gast“ geführt werde. Als letzte Rolle spielt sie noch die Großmutter in Horváths „Geschichten aus dem Wienerwald“. Früher wäre Zeller Ensemblemitglied geblieben und aus irgendeiner Seitentasche bezahlt worden, eine Praxis, die nicht unwesentlich zur großen Schuldenbugwelle im Theater beigetragen hat. Bergmann musste allein im ersten Jahr vier Millionen Euro einsparen, was ihr gelang. Allerdings hatte sie zunächst bei sich angefangen – und rigoros das Gehalt gekürzt. Eine Frau, ein Wort. Fortan hatten sie in Wien an der Burg, deren Bewohner und Gäste teils in die Depression abgerutscht waren, den Eindruck, sie könnten sich wieder auf die Intendanz verlassen.

Spielpläne, die auch den Bauch streicheln

Manchmal denkt Karin Bergmann schon darüber nach, ob ihr am Ende fehlt, was sie als „kathartisches Erlebnis“ beschreibt. Da steht dann der Chef auf, lässt den Flur der Intendanz hinter sich und geht einfach für ein paar Stunden auf die Probebühne, Regie führen: draußen spielen, wenn man so will. Karin Bergmann genießt die Proben aber auch, wenn sie lediglich als Zuschauerin dabei ist. Sie weiß, wer sie ist und dass sie sich „nie da oben“ habe stehen sehen, „noch nicht einmal als Kind“. Vielleicht bastelt man so auch eher Spielpläne, die nicht nur von Kopfgeburten künden (und wofür die Burg zuletzt wieder zum „Theater des Jahres“ gewählt wurde), sondern auch den Bauch erreichen, der manchmal einfach nur gestreichelt werden will. Dafür gibt es derzeit in Wien eine Komödienklamotte wie „Das Konzert“ von Hermann Bahr im Repertoire, die mit allen Mitteln des klassischen Schwanks vom Jahre dunnemals die Geschichte des notorisch untreuen Pianisten Gustav Henk erzählt, der hier von Peter Simonischek gespielt wird.

Bergmann ist mittlerweile seit drei Jahrzehnten in Wien, und wenn man nach dieser Zeit eines weiß, dann ist es, dass der Burgtheater-Wiener wegen der Schauspieler ins Theater geht. Das Stück wird er sich dann, siehe oben, siehe Jelinek, schon richten. Was soll man sagen? Erwartbar, aber im Detail dann doch überraschend und witzig und sogar ein bisserl moralisch zieht Simonischek zusammen mit einem großartigen Ensemble wirklich sämtliche Register der Halbseidenheit. Aber groß! Es sind dies so Abende, an denen Karin Bergmann, die späte und erste Burgtheaterdirektorin, bedauert, dass man dieses Amt nicht auf ewig ausüben kann. Aber noch hat sie bis zum Jahr 2019 Zeit. Erst mal.