Es ist vollbracht: Mit dem letzten Band „Kämpfen“ liegt nun der Romanzyklus auf Deutsch vor, in dem der norwegische Schriftsteller Karl Ove Knausgard sein Leben bloß legt. Der Titel drückt aus, was dem Leser bevorsteht. Davon sollte man sich nicht abhalten lassen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Knapp 1300 Seiten, über ein Kilo Buch, seitenweise kein einziger Absatz und in der Mitte ein riesiger Essay, an dem sich wie an einer Mauer der Erzählfluss staut: Der Schlussstein, mit dem der norwegische Autor Karl Ove Knausgard den monumentalen Romanzyklus über sein Leben versiegelt, hat es in sich. „Kämpfen“ ist die deutsche Übersetzung des sechsten und letzten Bandes überschrieben. Wer dazu nicht bereit ist, wird vermutlich kaum bis zum Morgen jenes zweiten September 2011 vordringen, an dem der Autor notiert, dass das gewaltige Werk endlich fertig sei, und er sich nun auf seine Frau Linda freue, um ihr und den Kindern zu geloben, ihnen nie wieder so etwas antun zu wollen.

 

Zur Beschäftigung mit dem Phänomen Knausgard gehört die einschlägige Kenntnis literarischer Suchtsymptomatiken. Massenhysterie, Medienerregung, Bestsellertaumel – solche Begriffe liegen in der Luft, wenn man sich ihm nährt. Während die eine Hälfte in ihren Leseextasen überrascht sich selbst gewahrt, schäumt die andere Hälfte gerade wegen der skandalösen Wiedererkennbarkeit: Anwälte und Medien laben sich lüstern an der unerhörten Indiskretion, mit der der Autor das alkoholische Todeselend seines Vaters und die bipolare Passion seiner Frau vor aller Augen ausbreitet, frühere Geliebte brüskiert, Kinder, Verwandte, Freunde zum Opfer eines Experimentes auf Leben und Text macht.

Der Onkel tobt

Nun also „Kämpfen“. Nicht nur für die Familie, auch für den Leser ist dieser letzte Band eine Belastungsprobe. Hier wird die monumentale Verspiegelung auf die Spitze getrieben. Die beiden Teile umfassen die Zeit während der Niederschrift des ersten und des letzten Bandes von „Min Kamp“, wie der norwegische, Massensuggestionen durchaus aufgeschlossene Original-Titel des Zyklus lautet - in Deutschland begnügt man sich mit harmloseren Titel für die einzelnen Werkteile: „Sterben“, „Lieben“, „Spielen“, „Leben“ und „Träumen“.

Knausgard schreibt, der Leser schaut ihm zu und beobachtet, wie dieses Projekt, das sich der reinen Beobachtung überantwortet hat, eigene Realitäten schafft. Der erste Teil ist beherrscht von dem tobendem Onkel, der sich gegen die Weise empört, in der Knausgard in „Sterben“ seinen Vater dargestellt hat. Er droht mit rechtlichen Schritten, attackiert den Verlag und bringt die Presse gegen den Autor in Stellung, der wiederum von Zweifeln gemartert wird, wie sich die von ihm intendierte Wahrhaftigkeit zu den Lügen-Vorwürfen des Onkels verhält.

Schwerer Bildungsballast

Einmal wird die Analyse des französischen Religionsphilosophen René Girard zitiert, nach der das Nachgemachte, Imitation, Mimesis zu den grundlegendsten Tabus der Kultur zählen, was noch im Unheimlichen der romantischen Doppelgängerfigur weiterlebt. Weite Teile von „Kämpfen“ reflektieren den Tabubruch, den Knausgard durch die erzählerische Verdopplung seiner Lebenswelt begeht. Spiegel wohin man blickt: Sei es, dass sich der Erzähler beim Pinkeln selbst betrachtet, und darüber sinnt, wie sich seit der Geburt der ältesten Tochter große Furchen in Stirn und Wangen gegraben haben; sei es, dass er sich an die Reihe der Gesichter erinnert, „die in der illusorischen Tiefe des Spiegels verschwanden, als ich als kleiner Junge mit einem anderen, Bilder erzeugenden Spiegel in der Hand vor dem Spiegel stand. Kleiner und kleiner und kleiner, tiefer und tiefer hinein, bis in alle Ewigkeit.“

Vieles in diesem letzten Band geht in endlosen Reflexionen verloren. Im vielgerühmten Sog des Erzählens treiben diesmal nicht nur die alltäglichen Dinge, Kinderszenen, Einkäufe, Gespräche, die Sorge, wie sich die Bedingtheiten des Lebens mit dem Unbedingtheitsanspruch des Ich vereinbaren lassen. Als bedürfte es eines Gegengewichts für das in Banalitäten verfliegende Dasein, holt Knausgard schweren Bildungsballast ins Boot: Homer, Laokoon, die übermächtigen Ahnen Joyce und Proust. Im Mündungsdelta des Knausgard’schen Erinnerungsstroms verfranzt sich, was man Handlung nennen könnte, in immer ausschweifenderen Nebenkanälen, und kommt schließlich vorübergehend ganz zum Stillstand.

Auf der Suche nach dem Du

Von allen Spiegelungen die undurchdringlichste ist jene, die dem Zyklus den Namen gab. Im Bücherschrank der Großmutter fand sich nach ihrem Tod ein Exemplar von Hitlers „Mein Kampf“. Es ist für Knausgard ein Symbol für das Böse schlechthin: „Die Tür zwischen Text und Wirklichkeit steht darin so sperrangelweit offen, wie es in anderen Büchern nie der Fall ist“. Auf 500 Seiten verfolgt er die Genese dieses Machwerks und der aus ihm herauswachsenden Verbrechen. Seine Rekonstruktion exorziert die Geister, die durch die Tür zwischen Text und Wirklichkeit in sein eigenes Werk gelangt sind.

Dieses Mittelstück von „Kämpfen“ ist eine Art essayistischer Jahrhundert-Spiegel, in dem sich die persönlichen Erfahrungen, der Kampf mit einem brutalen, übermächtigen Vater, das Verlangen nach Kunst und Größe im nationalsozialistischen Alptraum brechen. Dabei kreist die erdrückende Fülle ideengeschichtlicher Belege, die Knausgard vor den Leser mehr hinkübelt als wirklich entwickelt, um einen gedanklich überschaubaren Kern, der im wesentlichen aus der immer wieder neu deklinierten Gedankenfigur besteht: „In ,Mein Kampf‘ gibt es ein Ich und ein Wir und ein Sie, aber es gibt kein Du.“ Umstellt von den makellosen Bildern der Werbeindustrie, die Schönheit, Gesundheit, Größe mit Riefenstahl’schem Raffinement feiert, gilt es auch heute, das Du in seiner Individualität gegen den Absolutheitswahn zu verteidigen, der von den faschistischen Massenchoreografien geradewegs in den Massenmord geführt hat.

Das ausufernde Gedankenprotokoll dieses Essays taugt, von den beschriebenen Suchtsymptomen zu kurieren. Doch mit dem zweiten Teil droht der Rückfall. Der Schilderung, wie Knausgard die Niederschrift des sich gleichsam vor den Augen des Lesers vollendenden Bandes der Krankheit seiner Frau, drückenden Alltagsangelegenheiten und dräuenden Selbstzweifeln abringt, kann man sich kaum entziehen.

Zwischen verpinkelten Windeln und hohen Gefühlen

Wer heute liest, wird unweigerlich selbst zum Teil dieser Geschichte. Knausgard ist gewissermaßen das Über-Du der Gegenwartsliteratur, die in weiten Teilen inzwischen aus nichts anderem besteht als Autofiktionen, Romanen, die sich kopfüber im Leben ihrer Autoren versenken. Der Preis ist die Konfrontation mit den überwältigenden Nichtigkeiten der Welt. Der Lohn die Hoffnung, es könnte darin etwas stecken, was uns über sie erhebt.

Unter all den literarischen Verdopplern des Lebens ist Knausgard das Original. Während eine in sozialen Netzwerken gefangene und sich in Timelines ausstellende Generation danach trachtet, ihr Treiben gängigen Modellen anzuverwandeln, träumt sein existenzielles Schreibprogramm davon, gerade die Zweifel, Anfechtbarkeiten und Schwächen zum Romanstoff zu gewinnen.

Aber war nicht genau dies seit je das große Projekt des Bildungsromans? „Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn“, heißt es bei Hegel über die Gattung.

Diese Kämpfe vollenden sich schmerzhaft in Knausgards literarischer Konzeptkunst, sie ist der große Bildungsroman unserer Tage. Er erzählt vom Kampf zwischen Himmel und Erde, von verpinkelten Windeln und hohen Gefühlen. Das ist im Einzelnen zuweilen entsetzlich, im Ganzen aber so irritierend schön und direkt, wie der scheue, skeptische Blick, der aus manchen alten Selbstporträts durch die Jahrhunderte dringt und den Betrachter in ein Du verwandelt. Nur viel näher.