Die Medizinstudenten kommen freiwillig, weil sie in Krisen helfen wollen. An der Uniklinik Ulm üben sie, wie man sich im Notfall richtig verhält – mit wenig Ausrüstung und wenig Zeit. Mancher kommt dabei an seine Grenzen.

Politik/Baden-Württemberg: Rüdiger Bäßler (rub)

Ulm - Orte gibt es, deren Namen bleibt auf immer mit großen Katastrophen verbunden. Das gilt für die Gemeinde Eschede, die sich von dem ICE-Unglück 1998 nie mehr wird ganz lösen können. Oder das niederländische Enschede, wo 2000 eine Feuerwerksfabrik explodierte. Oder Duisburg, Schauplatz des Loveparade-Desasters 2010. Die vielen Toten und Verletzten schockierten die Öffentlichkeit.

 

Es gibt jede Menge Gründe für das Medizinfach, sich mit der Frage zu beschäftigen, was Ärzte in solchen Ausnahmesituationen tun können und sollen. An der Universitätsklinik Ulm geschieht das gerade wieder, dort wird noch bis Freitag die Sommerakademie Katastrophenmedizin abgehalten. Neu ist es nicht, dass Medizinstudenten diese besondere Ausbildung erhalten, aber es gibt neue Bedrohungen, die vehement auch in deutschen Wohnzimmern diskutiert werden: die afrikanische Ebola-Seuche, die kriegsähnlichen Szenen in der Ukraine und in Palästina, der Vormarsch der IS-Terroristen in Syrien. Deutsche Verfassungsschützer warnen längst vor der Rückkehr radikalislamistischer deutscher Kriegsreisender; sie ließen auch die Terrorgefahr im eigenen Land steigen.

Die Katastrophe hat viele Gesichter. Sie kann als Wasserflut auftauchen, als verheerender Brand, als stürzendes Bergmassiv oder als Maschinengewehrsalve. Ein Busunglück in Köln sei grundsätzlich keine Katastrophe, sagt Stefan Gromer, Geschäftsführer der Stiftung des Deutschen Instituts für Katastrophenmedizin, das diese Ulmer Sommerakademie organisiert hat. Nicht einmal der Terroranschlag des 11. September in New York sei aus medizinischer Sicht ein Katastropheneinsatz gewesen, so Gromer. Die Menschen in den einstürzenden Hochhäusern seien sofort tot gewesen. „Alle, die rauskamen, waren sogar gehfähig“ – sie hätten von den städtischen Rettungskräften aufgenommen werden können.

Wird man die eigenen Emotionen im Griff haben?

Ein Busunfall auf einer schmalen Straße auf Sylt aber, an einem Tag, wo Nebel und Stürme herrschen, kein Schiff fahren und kein Hubschrauber fliegen kann, das sind nach Gromers Definition Katastrophenumstände. Dann müsse der Arzt, der zuerst an den Unfallort kommt, im Idealfall eine „andere Medizin“ machen. Eine Arbeit, die von Blut und Tränen umgeben ist, ohne Röntgenbilder und mit dürftigem Besteck.

Der Chefchirurg Christoph Riepl von der Ulmer Unfallchirurgie erklärt den Studenten sehr genau, was das heißen kann. „Wenn ich einen oder zwei Patienten mit Unterschenkelfraktur habe, kann ich denen einen Nagel ins Schienbein klopfen. Wenn ich 20 habe, kann ich nur einen Fixateur dran machen.“ Also lernen die Jungmediziner ausführlich, wie ein Fixateur anzulegen ist. Sie lernen außerdem das Nähen und Gipsen unter Hochdruck oder wie inmitten Ruinen Atemwege gelegt werden. In einer Art Zirkeltraining durchlaufen die Studenten die über das Klinikgelände verteilten Lernstationen.

Drei davon davon befinden sich im benachbarten Bundeswehrkrankenhaus auf dem Ulmer Eselsberg. Dort gewinnen Ärzte Jahr für Jahr Erfahrung mit schweren Schussverletzungen, verätzten Lungen oder zerschmetterten Knochen. Mittendrin ist der Oberstarzt Matthias Helm, Leiter der Sektion Notfallmedizin und ein Mann, dem schon viele Schrecken begegnet sind. „Bestimmte Dinge kann man nicht üben“, sagt Helm dem Nachwuchs. Wer sich im Hochwassereinsatz befinde und selber einen vollgelaufenen Keller zu Hause habe, könne sich nicht komplett seiner Arbeit hingeben. Niemand könne wissen, ob er im Krisenfall jederzeit Herr über die eigenen Emotionen sein werde, ob nicht schreckliche Bilder, Töne und Gerüche die Vorherrschaft im Kopf übernähmen.

Die Ärzte müssen beim Helfen Prioritäten setzen

Was Matthias Helm trainieren lässt, sind Automatismen: die Fertigkeit, eine Naht zu setzen, der sichere Blick für Verletzungsmuster, das Hierarchisieren der Arbeit. Automatismen, ein sicheres Handwerk seien der Anker für ein Handeln, das wirklich Hilfe bedeutet, sagt der Ulmer Bundeswehrarzt. Vor Schafslungen, die auf einem Tisch ausgebreitet sind, steht Johannes Schad, Ärztlicher Leiter der Stiftung Katastrophenmedizin. Er zeigt, wie eine Thoraxdränage nach den Regeln der Kunst auszuführen ist, ohne dass auf Röntgenbilder zurückgegriffen werden kann. Die Tierreste sind vom Schlachthof angekauft worden, es habe nicht extra Schlachtungen für dieses Seminar gegeben, wird betont. Eine ruhige, sichere Hand lehrt auch Schad, aber auch er weiß, dass es im Krisenfall genauso auf den Kopf ankommt, auf die Selbstkontrolle. Jungärzten empfiehlt er Leitsätze für den Katastrophenfall. „Ich muss hier nicht die Gesamtverantwortung übernehmen“, heißt so ein Satz. Dafür seien Behörden da, Rettungsorganisationen und Polizeien.

Und sehr oft das Militär, betont Stefan Gromer. Meist gelte bei Auslandseinsätzen: „Ohne Militär kannst du nicht arbeiten. Und du kannst auch nur schlafen, weil draußen einer steht, der aufpasst.“ Das sagt er gerade Studenten, „die rosarote Vorstellungen haben“.

Es gibt noch andere Schrecklichkeiten, auf die das Seminar einen Ausblick gibt, und eine davon ist es, eine Rangordnung des Helfens machen zu müssen. Was tun, wenn viele verschiedene Schwerverletzte vor dem Arzt liegen? Darunter womöglich Kinder? Wo ist anzufangen? „Es sind Algorithmen, die das bestimmen“, sagt Gromer. Auch er hat einen Leitsatz: „Ich kann nicht allen helfen.“ Zum Beispiel gelte in der „Chaosphase“ am Anfang: keine Wiederbelebungen. Wiederbelebte könnten meist gar nicht versorgt werden. Andere Parameter seien Atem- oder Herzschlagfrequenz. Es müsse, wenn Zeitnot herrsche, dort zuerst geholfen werden, wo auch Aussicht auf Erfolg bestehe.

Mancher Student bekommt Zweifel

Bundeswehrarzt Helm kann von mancherlei Störung erzählen, die er selber in Krisengebieten bei seiner Arbeit erlebt hat. „Sie werden ganz schnell konfrontiert mit Leuten, die sagen: Ich habe aber Geld.“ Oft werde von Umstehenden verlangt, angeblich besonders wichtige Menschen zuerst zu versorgen. Das dürfe nie geschehen, predigt Helm. Stets müssten medizinische Erwägungen alle Handlungen leiten. Das ist der ethische Teil des Sommerseminars.

Die Katastrophenmedizin ist kein Fach der Medizinerausbildung. Das käme wohl daher, heißt es bei der Stiftung, dass sie sich aus der Kriegsmedizin abgeleitet habe, also der schnellstmöglichen Wiederertüchtigung verwundeter Soldaten. Jahrelang habe man sich in Deutschland diesem fächerübergreifenden Ausschnitt nicht genähert. Die es tun, tun es freiwillig. So wie Student Julian Pfäffli aus Basel. In der Schweiz gebe es auch keine regelhafte Ausbildung in Katastrophenmedizin, sagt er. Aber helfen in Krisengebieten, das reizt ihn.

Anna Albert aus München weiß das nicht mehr so genau. Sie müsse sich erst nochmals „Gedanken machen, ob man das aushält“. Stefan Gromer ist darüber nicht sauer. Schlimmer als ein Student, der sich für die Katastrophenmedizin als ungeeignet erweist, sagt er, sei ein Arzt, der in der Katastrophe unfähig ist zu handeln.