Ken Follett schließt mit den „Kindern der Freiheit“ seine Trilogie über das zwanzigste Jahrhundert ab. Er erzählt eine epische Geschichte vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zum Fall der Mauer in Geschichten von fiktiven Familien.

Stuttgart - Die Menge trotzte der Mauer, den Grenzern und dem DDR-Regime nun offen. Rebecca sah, dass auch bei den Grenzern die Stimmung umschlug. Einige sprachen mit den Leuten, was eigentlich verboten war. Ein Mann riss einem Grenzer die Kappe vom Kopf und setzte sie auf. Der Grenzer bat: ,Könnte ich die zurückhaben? Ich brauche die noch, sonst bekomme ich Ärger.‘ Der Mann gab sie dem Soldaten so freundlich zurück, wie dieser darum gebeten hatte.“

 

Wer alt genug ist, den Fall der Mauer vor 25 Jahren politisch bewusst miterlebt zu haben, glaubt sich an eine solcher Szenen erinnern zu können. Einige Leser waren womöglich am 9. November selber in Berlin. Alle kennen die Fernsehbilder jener Nacht, in der die Spaltung Deutschlands und Europas ein Ende fand. Passierte die Szene mit dem Grenzsoldaten und seiner Mütze wirklich? Ist sie nur Symbol für etwas, was sich so ähnlich ohne Zweifel ereignet hat? Ist sie erfunden oder recherchiert?

Die Schilderung stammt aus dem neuen Roman „Kinder der Freiheit“ des britischen Bestsellerautors Ken Follett. Es handelt sich um den letzten Band der dreiteiligen „Jahrhundert-Saga“, einer epischen Geschichte des 20. Jahrhunderts vom Vorabend des Ersten Weltkrieges bis zum Fall der Mauer, erzählt in Geschichten von fiktiven Familien. Sicher ist: Jene Rebecca, die die Mützenszene beobachtet, ist eine Erfindung Folletts. Aber der Autor arbeitet akribisch. Er beschäftigt ein Heer von Rechercheuren, die ihm das Rohmaterial liefern, aus dem er seine historischen Romane formt. Es könnte gut sein, dass dokumentiert ist, wie damals eine Mütze zwischen einem Grenzsoldaten und einem DDR-Bürger hin- und herwanderte.

Geschichtsschreibung und Geschichtenschreibung sind Brüder

Das Wort „Geschichte“ hat ja im Deutschen zwei Bedeutungen. Zum einen meint es Historie, das Werden und Vergehen von Völkern und Menschengeschlechtern, von Reichen und Dynastien, von Mächtigen und Ohnmächtigen, es meint den zur kollektiven Erinnerung geronnenen Lauf der Zeit. Zum anderen bezeichnet es eine Erzählung, eine Fiktion, in der Menschen außerordentliche, oft dramatische Geschehnisse durchleben.

Die beiden Bedeutungen hängen eng miteinander zusammen. Kein ernst zu nehmender Wissenschaftler behauptet noch, die „Geschichtsschreibung“ berichte getreulich, wie es eigentlich gewesen ist – so lautete der Anspruch des preußischen Reformhistorikers Leopold von Ranke im 19. Jahrhundert. Bei der populären Geschichtsschreibung, vor allem wenn es um die Nationalgeschichte geht, sprechen Historiker heute von Narrativen, Geschichten also, die Gemeinschaften zu einem Erzählstrang ihrer Geschichte zusammenbinden. Kurz gesagt: Geschichtsschreibung und Geschichtenschreibung sind Brüder.

In früheren Zeiten war das eindeutig: Bei Homers „Illias“ und „Odyssee“, Herodots Schriften, christlicher Hagiographie und Einhards „Vita Caroli Magni“ fließen Fiktion und Fakten zusammen, um dem Vergangenen einen Sinn für die Gegenwart zu geben. Heute vermag man diese Verbindung nicht mehr mit ähnlicher Leichtigkeit zu erkennen, wenn man die fußnotenschweren, sprachlich hölzernen Abhandlungen vieler universitärer Historiker liest, die sich wissenschaftlich redlich, aber für den Leser unerquicklich weigern, das Vergangene zu einem Narrativ zu formen.

In der zweiten Reihe der Weltgeschichte

Die Rolle der klassischen Geschichtsschreibung haben vielfach Schriftsteller übernommen. Autoren wie Ken Follett und sein englischer Landsmann Edward Rutherfurd bringen die beiden Brüder wieder zusammen. Follett tut dies im Roman „Kinder der Freiheit“ und seinen Vorgängern sogar im Wortsinne. In den Romanen der Trilogie reißt er fiktive Geschwisterpaare auseinander, verstreut sie über die Kontinente, vertäut sie mit realen Persönlichkeiten der politischen Geschichte des 20. Jahrhunderts und vereint sie am Ende mit großem erzählerischem Atem wieder.

Rebecca und Walli zum Beispiel leben zu Beginn der „Kinder der Freiheit“ in Ostberlin, wo sie und ihre Familie von einem Stasioffizier malträtiert werden. Beide flüchten kurz nach dem Bau der Mauer unter waghalsigen Umständen in den Westen. Walli wird Popstar in Amerika, seine Adoptivschwester Rebecca steigt in Westdeutschland bis zur Staatsministerin im Auswärtigen Amt auf. Schon im ersten Band „Sturz der Titanen“ hatte Follett die Lebenswege der russischen Brüder Lew und Grigori Peschkow geteilt. Lew nahm als Bolschewikenführer am Sturm auf den Winterpalast in Sankt Petersburg teil und steigt zum Sowjetgeneral auf, Grigori wandert in die USA aus und wird Millionär.

Im letzten Band trifft Grigori seinen Bruder an dessen Sterbebett wieder. Ein britischer Lord und seine in Ostberlin lebende Schwester; ein englischer Popmusiker in den USA und seine Schwester, die als Schauspielerin zunächst in Hollywood Karriere macht; ein weißer US-Senator und sein schwarzer Sohn, der an der Seite von Robert Kennedy „Neger-Rechte“, wie es damals hieß, durchsetzen will. Mit professionellem Geschick versteht es der englische Bestsellerautor, dreimal über jeweils mehr als tausend Seiten ein Netz an Verbindungen zwischen seinen Protagonisten zu weben. An den Knotenpunkten treffen sie gelegentlich aufeinander, so dass sich von Russland bis Amerika, von Deutschland bis England die Geschichte des 20. Jahrhunderts zum Schicksal einer weit verzweigten Familie verdichtet.

Rassenhass, plumper Antikommunismus, Homophobie

Follett platziert seine erfundenen Figuren in der zweiten Reihe der Weltgeschichte. So kann er sie an der Seite realer Persönlichkeiten wie John F. Kennedy, Martin Luther King, Nikita Chruschtschow und Michail Gorbatschow agieren lassen. Sie erleben als Berater oder Vertraute die dramatischen Momente mit – von der Kuba-Krise über den Marsch auf Washington bis zum Fall der Mauer. Dieses Verfahren verwenden viele Autoren historischer Romane. Je näher jedoch die Handlung von quellenarmen Zeiten in die Gegenwart rückt, desto größeres Geschick muss ein Autor an den Tag legen, um die Balance zwischen Glaubwürdigkeit und dramatischer Notwendigkeit zu finden. Die Leser wissen eben mehr über den historischen Rahmen; oft ist er ein Teil der eigenen Biografie.

Ken Follett gelingt dies in seiner „Jahrhundert-Saga“ ebenso glänzend wie spannend. Seine Stärken liegen darin, dass zum einen seine Figuren eine psychologische Einwicklung durchlaufen. Der Sowjetfunktionär Grischa zum Beispiel verliert erst über die Jahrzehnte den Glauben daran, dass der Kommunismus in seinem Land reformierbar sei. Zum anderen lässt Follett seine Protagonisten in den Kategorien ihrer Zeit denken. Rassenhass, plumper Antikommunismus, Homophobie – selbst wer von den Protagonisten in den „Kindern der Freiheit“ modern denkt, bleibt im Rahmen der Modernität seiner Zeit.

Das ist keine gering zu schätzende Kunst. Unser menschliches Gedächtnis betrachtet Geschichte rückblickend teleologisch. Das heißt: Wir lesen die Vergangenheit als eine unweigerliche Entwicklung auf ein Ziel hin, das wir schon kennen: unsere Gegenwart. Um dieser Denkfalle zu entgehen, bedarf es intensiver Recherche und der Fähigkeit zur Empathie.

Beides prägt den Roman „Kinder der Freiheit“ und die beiden Vorgängerbände. Mit der „Jahrhundert-Saga“ hat der Autor Ken Follett ein glänzendes Stück anspruchsvoller Unterhaltungsliteratur geschrieben.