Wenn Eltern von mehrfach behinderten Kindern eine Auszeit benötigen, können sie diese auch über Nacht ins Kindergästehaus geben. Doch das Angebot ist defizitär – und deshalb gefährdet. Die Caritas zieht die Notbremse.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Das Kindergästehaus der Caritas kann sich in den Ferien und an den Wochenenden vor Anfragen kaum retten. Als eine der wenigen Einrichtungen in der Stadt bietet es neben der Tagesbetreuung auch Kurzzeitpflegeplätze für schwer behinderte Kinder über Nacht an. Das Ziel ist es, dass die stark belasteten Eltern auch einmal Luft holen, Kraft tanken und Zeit für sich beziehungsweise für den Rest der Familie haben. Die Krux dabei ist indes, dass das Angebot hoch defizitär ist.

 

Im Jahr 2014 habe man 536 angefragte Betreuungstage nicht bedienen können, in diesem Jahr seien es bisher 307, sagt die Leiterin der Behindertenhilfe der Caritas, Beate Lachenmaier. Zu dem Gespräch sind auch Eltern gekommen, deren Kinder das Kindergästehaus besuchen. Die Anfragen kämen nicht nur aus Stuttgart und der Region, sondern auch aus ganz Baden-Württemberg sowie aus anderen Bundesländern. Denn Kurzzeitpflegeplätze sind rar. Im Kreis Esslingen beispielsweise gebe es gar kein Angebot, so Beate Lachenmaier. Die Nachfrage steige stetig. Denn angesichts des medizinischen Fortschritts überlebten immer mehr Kinder mit schweren Behinderungen.

Trotz dieser Entwicklung sieht sich der Caritasverband zu einer „Notbremse“ gezwungen und droht mit dem Abschied von der Kurzzeit, wenn man weiterhin für das Angebot draufzahlen müsse. Seit fünf Jahren kämpfe man um einen angemessenen Pflegesatz, sagt Beate Lachenmaier. Der Tagespflegesatz liege pauschal bei 194,81 Euro – egal, in welcher Pflegestufe ein Kind ist. Davon übernehme die Pflegekasse 140 Euro, der Rest entfällt auf die Stadt. Kostendeckend seien aber 308 Euro, so Beate Lachenmaier.

In die Einrichtung kämen vorwiegend pflegeintensive Kinder, von denen immer mehr eine Eins-zu-Eins-Betreuung benötigen. Das gelte für mehrfach behinderte Kinder, die gefüttert und gewickelt werden müssen, aber auch für verhaltensauffällige Kinder, die kein Gefahrenbewusstsein haben, sich selbst oder andere verletzen.

100 000 Euro legt die Caritas im Jahr drauf

„100 000 Euro legen wir im Jahr drauf“, sagt Beate Lachenmaier. Das halte ein Träger aber nur eine gewisse Zeit lang durch. Zum Vergleich: die Stadt Hamburg lasse sich die Kurzzeitpflege deutlich mehr kosten – der dortige Kupferhof erhält 200 Euro von der Stadt über die Eingliederungshilfe, hinzu kommen die 140 Euro aus der Pflegekasse.

Im Fall von Stuttgart hat die Caritas die Schiedsstelle angerufen. Sollte das Ergebnis der Sitzung im Januar nicht den eigenen Vorstellungen entsprechen, werde es im Kindergästehaus von Juli 2016 an nur noch die Tagesbetreuung geben, so Beate Lachenmaier. Die elf Kurzzeitpflegeplätze über Nacht fielen dann weg. So viele Plätze bietet kein anderer Träger in Stuttgart an. Insgesamt sind es laut Stadt 36 Plätze in der Kurzzeitpflege, darunter sind aber elf für blinde Kinder in der Nikolauspflege.

Das Sozialamt will mit Hinweis auf das Schiedsstellenverfahren die Verhandlungen mit der Caritas nicht kommentieren, Sie lässt aber über den Sprecher der Stadt ausrichten, man zahle mehr als im Landesdurchschnitt, der bei 150,70 Euro liege.

Für Eltern ist die Aussicht „eine Katastrophe“

Betroffene Eltern reagieren mit Entsetzen auf die Aussicht, auf Kurzzeitplätze verzichten zu müssen – schon jetzt würden sie nach Ulm oder bis an den Bodensee fahren, weil es so wenig Plätze gebe. „Das ist der Albtraum“, sagt Ursula Hofmann, eine Mutter von vier Kindern aus Esslingen. Sie richteten den eigenen Urlaub danach aus, wann sie einen Platz bekämen. Sie bräuchten die Entlastung. „Das ist eine Katastrophe. Es gibt doch jetzt schon kaum etwas im Land“, ergänzt Petra Riegler. „Was mache ich, wenn ich mir ein Bein breche?“, fragt die Mutter eines mehrfach behinderten Mädchens verzweifelt. Auch das Stuttgarter Ehepaar Wallis fürchtet um die Auszeiten, die wichtig seien, um den Bedürfnissen des gesunden Sohnes gerecht zu werden. Ingeborg Craney glaubt sogar, dass sie und ihre Tochter dem Kindergästehaus ihr Leben verdanken. „Wenn das Kindergästehaus nicht dagewesen wäre, wären weder ich noch meine Tochter noch hier“, sagt die Stuttgarterin. Ihr Kind habe die ersten drei Jahre Tag und Nacht geschrien. „Ich wusste nicht mehr, wo vorne und hinten ist.“

Die Angst vor der Zukunft

Sie habe die große Hoffnung, dass ihre behinderte Tochter vor ihr sterbe, sagt eine Mutter mit erstickter Stimme. Ihren gesunden Kindern sei die Pflege nicht zuzumuten. Und in ihren Augen gibt es „nichts“, wo sie die Tochter hingeben könnte. Für die Gesellschaft sei sie „nur ein Kostenfaktor“ .