Viele Nachkriegskinder haben in Heimen Furchtbares erlebt. Vor einem Jahr ist für die 800.000 Betroffenen ein Fonds geschaffen worden. Eine Bilanz.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Man sieht ihr nicht an, dass sie von einer kleinen Rente und Sozialhilfe lebt. Gerlinde Binder (Name geändert) trägt einen langen beigen Mantel, ihr silbernes Haar ist akkurat hochgesteckt, und die Bluse wird am obersten Kragenknopf von einem kleinen Edelweiß gekrönt. Richtig elegant sieht die 72-Jährige aus. So elegant, dass man ihr einmal in der Vesperkirche ein Mittagessen verweigert hat. Niemand nahm ihr ab, dass sie mittellos sei. Dabei ist die gute Kleidung für sie ein Teil ihrer Strategie, sich im Alter ihre Würde zurückzuerobern. Es ist ihr kleiner Sieg über all jene Menschen, die ihr jahrzehntelang eingeredet haben, sie tauge nichts, sie könne nichts, sie sei nichts wert.

 

Man kann nicht sagen, dass jene Menschen ganz erfolglos waren. Noch heute hört Gerlinde Binder die inneren Stimmen. Als Achtjährige ist die gebürtige Stuttgarterin ins Kinderheim St. Anna nach Leutkirch verschickt worden, das der katholischen Diözese Rottenburg-Stuttgart gehörte. Die Barmherzigen Schwestern von Untermarchtal waren die Erzieherinnen. Fast 65 Jahre ist das her, und doch gelingt es Gerlinde Binder nicht, auch nur einen Satz zu formulieren, ohne dass ihr die Tränen in die Augen schießen und ohne dass der Kloß im Hals ihr fast die Stimme abschnürt.

Da sind sie wieder, die schrecklichen Bilder. Wenn es abends im Schlafsaal, in dem 30 Mädchen untergebracht waren, nicht mucksmäuschenstill war, holten sich die Schwestern willkürlich einige Mädchen heraus und ließen sie halb nackt im kalten Flur unter einem großen Christuskreuz stillstehen – stundenlang, auch im Winter. Manchmal gab es schimmeliges Brot, und wenn sich ein Kind weigerte, es zu essen, wurde es ihm runtergestopft. „Wer sich erbrach, musste auch das wieder aufessen“, sagt Gerlinde Binder. Nachmittags mussten sie im Haushalt helfen, die Schuhe der Schwestern putzen. Und bei jedem kleinsten Muckser seien sie verprügelt worden, fast jeden Tag. Einmal sei ein Arzt zu einer Routineuntersuchung gekommen. Er sei entsetzt gewesen, als er die kleine Gerlinde mit all ihren blauen Flecken und Blutergüssen sah. Aber er schaute weg und schwieg.

Viele haben ihr Leben nicht mehr in den Griff bekommen

Gerlinde Binder ist kein Einzelschicksal. Sie gehört zu jenen 800 000 Menschen, die in der Nachkriegszeit einen Teil ihrer Kindheit und Jugend in einem deutschen Heim verbringen mussten. Viele kamen schon seelisch labil in diese Heime, weil die Eltern gestorben waren oder weil, wie im Fall von Gerlinde Binder, die Mutter kaum etwas von ihnen wissen wollte. Doch in den Heimen gab man den Kindern den Rest. „Rund 90 Prozent der Heimkinder leben heute von Hartz IV“, sagt Dirk Friedrich, der Vorsitzende des Vereins ehemaliger Heimkinder, „weil sie ihr Leben nie wieder auf die Reihe bekamen.“

Mittlerweile ist anerkannt, dass bis Mitte der 1970er Jahre, bis zu den Heimreformen, großes Unrecht in den Einrichtungen geschehen ist. Mechthild Bereswill und Theresia Höynck von der Universität Kassel haben mehr als 1000 Fallakten analysiert und kamen zu dem Ergebnis, dass sich die Erziehung in den Heimen „an den Vorstellungen von Ordnung und Unterwerfung orientiert hat“. Auch eine Forschungsgruppe der Ruhr-Universität in Bochum betonte, dass die Erzieher oft überzeugt waren, sie müssten das vermeintlich „Böse“ in den Kindern bekämpfen, auch und gerade in christlichen Heimen, in denen jeden Morgen beim Tischgebet die Nächstenliebe gepriesen wurde.

Tatsächlich ging es darum, die jungen Seelen zu brechen. Systematisch seien Strafen wie Essensentzug, Kaltduschen, sinnlose Arbeiten oder Isolation eingesetzt worden, sagen Mechthild Bereswill und Theresia Höynck. Grausame Aufnahmerituale seien von den Erziehern geduldet worden. Es habe bei Mädchen oft erniedrigende gynäkologische Untersuchungen gegeben, die medizinisch nicht nachvollziehbar gewesen seien. Dirk Friedrich, der selbst 15 Jahre in Heimen verbracht hat, spricht zudem von Elektroschocks, um das Bettnässen zu „heilen“, von Schlafentzug, von langen Sprechverboten und von sexueller Gewalt und fortwährendem Missbrauch.

Wehrlose Seelen

„Das Schlimmste war, dass man sich als Kind nicht wehren konnte und die Schuld immer bei sich gesucht hat“, erinnert sich Gerlinde Binder. Sie hat zwei Jahre in Leutkirch verbracht, kam dann wieder nach Hause, wo sie ebenfalls oft in den dunklen Keller gesperrt wurde, und musste später mit 16 Jahren – auf Druck ihrer Mutter – als Gehilfin mit Arbeitsvertrag für fünf Jahre zurück zu den Barmherzigen Schwestern, nun direkt nach Untermarchtal. Auch dort sei sie wieder gedemütigt und ausgebeutet worden als „Arbeitstier“, sagt Gerlinde Binder.

In vielen Briefen an das Jugendamt hat das junge Mädchen damals ihre Situation klarsichtig dargestellt und darum gebettelt, in eine anständige Familie zu kommen, wo sie vielleicht ein wenig Wärme erwarten durfte. Doch die Frau im Jugendamt schrieb nur kühl zurück, sie solle nicht länger „trotzig und unfolgsam“ sein. Lucas-Johannes Herzog, Mitarbeiter im Stuttgarter Jugendamt und Betreuer von Gerlinde Binder, sagt: „Die Jugendämter waren Teile des Systems – sie waren nie Anlaufstellen für die Kinder, sondern haben nur Akten verwaltet.“ Diesen Kindern half nichts und niemand. Sie waren ausgeliefert.

Im Februar 2012 ist nach langen politischen Beratungen ein Fonds mit 120 Millionen Euro eingerichtet worden, an dem sich der Bund, die evangelische und katholische Kirche sowie elf westdeutsche Bundesländer zu je einem Drittel beteiligt haben. Die Beratungsstelle für den Südwesten ist in Stuttgart angesiedelt, direkt am Feuersee. 468 Anfragen sind in diesem ersten Jahr angekommen, eine knappe Million Euro ist bewilligt worden. Mehr als fünf Millionen stünden noch zur Verfügung. Die Betroffenen können dort eine Einmalrente erhalten: Für jeden Monat an geleisteter Arbeit ab dem 14. Lebensjahr gibt es 300 Euro. Weiter kann eine Therapie oder andere materielle Unterstützung bezahlt werden.

Irmgard Fischer-Orthwein, die Leiterin der Beratungsstelle, leugnet nicht, dass viele ehemalige Heimkinder zunächst skeptisch waren. Mittlerweile mache sie aber oft die Erfahrung, dass der Betrag viele zufriedenstelle: „Es ist zwar nicht die Riesensumme, aber es ermöglicht manchen, ihrem Leben nochmals eine Wende zu geben, indem sie zum Beispiel aus der Obdachlosigkeit herausfinden.“

Die meisten Heimkinder fallen durch das Raster des Fonds

Gerlinde Binder erhofft sich wenig von dem Entschädigungsfonds, denn ihre Zeit als Gehilfin wird wohl nicht berücksichtigt – sie lebte ja nicht mehr im Heim und habe offiziell 40 Mark pro Monat bekommen, obwohl sie immer um ein Taschengeld habe betteln müssen, wie sie sagt. Dabei würde sie sich so sehr wünschen, sich wenigstens jetzt im Alter hin und wieder etwas gönnen zu können. Skeptisch macht sie auch die lange Wartezeit: Fünf Monate muss sie sich bis zum ersten Termin am Feuersee gedulden. Tatsächlich wird die Beratungsstelle jetzt personell aufgestockt, um diese inakzeptabel lange Wartezeit zu verringern.

Mit ein paar Euro will sich Gerlinde Binder jedenfalls nicht abspeisen lassen: „Das wäre ein Almosen, das ich nicht annehmen werde“, sagt sie. Damit liegt sie auf einer Linie mit dem Verein ehemaliger Heimkinder. Er kritisiert, dass die besonders perfide Kinderarbeit unter den Tisch gekehrt wird. Und er moniert, dass 90 Prozent der ehemaligen Heimkinder gar nichts bekommen werden, was sich an den geringen Stuttgarter Zahlen bislang bestätigt. Er sagt deshalb: „Wir wurden um unser Leben betrogen. Wir wollen deshalb eine gerechte Opferrente für alle.“

Um das Leben betrogen: das gilt auch für Gerlinde Binder. Aber sie hat auch gekämpft. Mancher Lehrer hat ihr hohe Intelligenz bescheinigt, später ist sie auf die Abendschule gegangen und hat ihr ganzes Leben lang gearbeitet. Und vor allem: sie hat ihr Leben in die Hand genommen und sich distanziert von Mutter, Erziehern und falschen Freunden. Es ist deshalb jenen dunklen Gestalten in ihrem Leben nicht gelungen, sie ganz zu brechen. Darauf ist sie stolz. Die Farbe der Hoffnung ist das Beige ihres Mantels.

Die Barmherzigen Schwestern heute

Mit der Hilfe von Lucas-Johannes Herzog hat sich Gerlinde Binder nun aufgemacht, ihrer Vergangenheit zu begegnen. Aus Untermarchtal erhielt sie beim zweiten Nachhaken Dokumente aus ihrer Zeit als Gehilfin. Die meisten Heime seien offen und hilfsbereit, das ist die Erfahrung von Irmgard Fischer-Orthwein. Auch Schwester Anna-Luisa, die bei den Barmherzigen Schwestern in Untermarchtal die Anfragen ehemaliger Heimkinder annimmt, beschönigt nichts. Das Geschehene sei unbegreiflich und für sie persönlich schwer zu ertragen, sagt sie. In der Ordensgemeinschaft bemühe man sich um eine Aufarbeitung, die allerdings viel Kraft koste – manche der älteren Schwestern würden verdrängen, manche machten aber auch eine Therapie. Schwester Anna-Luisa will das Unrecht an den Kindern nicht relativieren, aber auch die Schwestern seien teilweise Opfer gewesen. Schlecht ausgebildet und rund um die Uhr im Einsatz, hätten sich viele überfordert gefühlt.

Für Schwester Anna-Luisa hat die Heimerziehung noch eine ganz andere, ganz aktuelle Dimension. Gerade kommt sie von einer Reise durch Afrika zurück, wo ihr Orden in Tansania noch Träger von Heimen ist. Und dort erlebt sie jetzt dieselben Methoden wie vor 50 Jahren in Deutschland: „Eltern kommen am Samstag ins Heim, um der Prügelstrafe ihres Kindes beizuwohnen. Kleine Kinder werden wie Esel mit einer Peitsche in Schach gehalten.“ Die Barmherzigen Schwestern wollen ihre Trägerschaft nicht aufgeben, weil sie dann den Einfluss ganz verlieren würden. Sie setzen darauf, die Angestellten besser auszubilden, um die Gewalt zu mildern. „Aber für diese Probleme in Afrika“, sagt Schwester Anna-Luisa „interessiert sich hier kein Mensch.“