Seit mehr als einem Jahr gibt es am Olgahospital ein mobiles Team, das sterbenskranke Kinder und Jugendliche zuhause versorgt. Wie ist es, wenn der Tod viel zu früh kommt? Ein Tag mit dem Kinderpalliativteam.

Stuttgart - Die Schicksale stapeln sich in 19 bunten Mappen auf dem Bürotisch: ein junger Mann, 23, der einen unheilbaren Tumor hat; ein fünf Monate alter Junge mit lebensbedrohlichen Blutungen; ein Mädchen, das seine letzten Wochen in einer Einrichtung verbringt, weil die Eltern zerstritten sind.

 

Es ist kurz nach zehn Uhr am Morgen, als Claudia Blattmann, Palliativmedizinerin und Oberärztin in der Onkologie am Stuttgarter Olgahospital, sich zwei der Mappen greift, die rot-weiße Arzttasche über die Schulter hängt und mit Karin Jäckle, Kinderkrankenschwester, ins Auto steigt. Vor anderthalb Jahren wurden in Baden-Württemberg fünf Kinderpalliativteams gegründet. Sie machen einen Hausbesuch alle zwei Wochen und kommen auch in Notfällen. Bisher haben Claudia Blattmann und ihre Kollegen 75 Patienten im Umkreis von 100 Kilometern versorgt: Kinder und Jugendliche mit nicht heilbaren Krankheiten und begrenzter Lebenserwartung, wie es auf dem Papier heißt. 16 von ihnen sind in der Zeit gestorben.

Der erste Termin an diesem Morgen ist knapp 35 Kilometer von Stuttgart entfernt. Ein Wohngebiet in Backnang, das Garagentor ist rot gestrichen, im Hauseingang steht ein Kinderwagen. Monika Baum (Name geändert) ist zu Hause an diesem Tag, sie unterrichtet nur zweimal die Woche an der Realschule im Ort, weil mit einem pflegebedürftigen Kind einfach nicht mehr Zeit bleibt. Bei der Geburt von Benjamin hatte Monika Baum einen Gebärmutterriss, der Junge bekam nicht genug Sauerstoff, deshalb ist er schwer behindert.

Jede Lungenentzündung kann für Benjamin tödlich sein – muss aber nicht

Das Kinderzimmer ist im Obergeschoss, die Fenster sind gekippt, aber die Hitze macht Benni trotzdem zu schaffen, sagt seine Mutter, eine kleine Frau mit wachem Blick und voller Energie. Der Junge, fünf Jahre alt, liegt im Bett, über seinem Kopf ein Flugzeugmobile, an seiner Nase ein Schlauch, der Sauerstoff in seine Lunge pumpt. Als Claudia Blattmann sich neben das Bett stellt, verzieht Benni erst das Gesicht und dann lacht er. „Du Kasper“, sagt seine Mutter, und dass sie froh sei, dass er überhaupt reagiert.

Wegen seiner Behinderung leidet Benjamin immer wieder an Infekten, meistens eine Lungenentzündung, und die kann jedes Mal tödlich sein – kann, muss aber nicht. Mit dieser Ungewissheit leben Monika Baum und ihr Mann seit fünf Jahren. Welche Lebenserwartung Benjamin hat, kann niemand sagen.

Benni hustet ein wenig und grummelt. Manchmal benutzen sie jetzt den neuen „Cough Assist“, den Hustenassistenten, ein grauer Kasten mit Schlauch, der neben der Kugelbahn aus Holz und dem Korb mit Spielsachen in einer Kinderzimmerecke steht. Manchmal sei es ein Ausprobieren, sagt Claudia Blattmann, man schlägt Therapien oder Hilfsmittel vor und guckt, ob sie Besserung bringen. So auch an diesem Morgen. „Star Wars hat Einzug erhalten“, sagt Monika Baum und lacht, aber eigentlich will sie nicht noch ein neues Gerät für ihren Sohn, nicht noch mehr Schläuche und Kabel und Maschinen an Bennis Bett.

Vor ein paar Wochen hatte der Junge wieder einen Infekt, da sah es schlecht aus, zu viel Schleim in der Lunge, und die Therapien schlugen nicht gleich an. Dieses Mal schafft er es nicht, dachten sie damals. Sie schlichen um Benjamins Bett, waren zu nichts zu gebrauchen. Und dann musste der Junge wegen einem Abszess auch noch ins Krankenhaus. Irgendwann ging es doch aufwärts, das Atmen klappte wieder besser, und mit Bennis Heimkehr kam auch die Erleichterung zurück in die Familie. „Gefühlsachterbahn“ nennt Monika Baum das.

Für die Eltern ist der Papierkram mit den Krankenkassen oft ein Nervenkrieg

Irgendwie haben sie gelernt, damit zu leben. Da sind ja auch noch die zwei anderen Kinder, und für die muss es Alltag geben, Normalität, Familienleben. Vielleicht sogar mal einen Ausflug am Wochenende, ohne schlechtes Gewissen, weil sie Benni mit der Pflegekraft zu Hause lassen. „Man lernt, sich an den kleinen Dingen zu freuen“, sagt Monika Baum. Eine halbe Stunde Ruhe mit der Kaffeetasse im Garten, ein Besuch von Freunden. Nur wenn es den Eltern gut geht, hat mal ein Arzt zu Monika Baum gesagt, geht es auch dem Kind gut.

Wenn die Ärzte oder die örtlichen Krankenhäuser nicht mehr weiterwissen oder die Pflege nicht stemmen können, kommen Claudia Blattmann und ihr Team ins Spiel, so war das auch bei Benjamin. Sie verschreiben Medikamente und Schmerzmittel, stellen Ablaufpläne für den Notfall auf, beraten rund um die Uhr am Telefon, wenn etwas ist, sie halten Kontakt zu den Pflegediensten, Ärzten und Krankenkassen. „Für Eltern ist das oft ein Nervenkrieg“, sagt Claudia Blattmann. All die Gutachten und Anträge und Kämpfe um etwas mehr Unterstützung von den Krankenkassen, dabei bräuchten sie die Zeit und Energie eigentlich für ihre todkranken Kinder.

Seit Monaten warten Bennis Eltern auf einen Treppensteiger, eine Art Stuhl, der helfen soll, das Kind öfter ins Wohnzimmer zu bringen, ohne es ständig die Stufen hoch- und runterzutragen. Vor ein paar Tagen kam wieder ein Brief, erzählt Monika Baum, die Krankenkasse hat den Antrag abgelehnt. Aber das kennen sie ja schon. Am Ende wird ein Gutachter eingeschaltet, und dann genehmigt die Kasse es doch.

Wer mit dem Tod zu tun hat, lernt auch einen anderen Umgang mit dem Leben

Manchmal wundert sich Claudia Blattmann, wie die Familien all das stemmen, jahrelang. Sie sitzt wieder im Auto, über die Freisprechanlage klärt sie die nächsten Termine ab. Ein kleiner Patient hat vergangene Nacht viel Blut gespuckt, in solchen Fällen macht das Team Notfalltermine.

Es kommt vor, dass Kinder viel länger leben, als die Ärzte dachten, obwohl es eigentlich in keinem der Fälle Heilungschancen gibt. Prognosen gibt sie keine mehr ab. „Kinder sind einfach unglaublich, was den Lebenswillen angeht“, sagt Claudia Blattmann. Aber was, wenn der Lebenswillen nicht reicht, wenn der Tod viel zu früh kommt? Es gibt Kinder und Jugendliche, die schreien, dass sie nicht sterben wollen, und es gibt Kinder, die still akzeptieren. Aber kein junger Mensch will sterben, und keine Mutter, kein Vater, will das eigene Kind sterben sehen.

„Manche Familien verkraften das nicht“, sagt die Ärztin. Die Mütter, die alles managen, die Väter, die sich zurückziehen, und die Geschwister, die im Schatten stehen, so sei das eigentlich fast immer. „Es gibt Familien, die kämpfen seit Jahren und haben das Gefühl, dass ihnen eh keiner hilft.“ Das mobile Palliativteam sei für viele eine große Unterstützung, aber manchmal hätten sich so viel Frust und Ärger angestaut, dass man kaum an die Eltern rankomme, sagt Blattmann. Oder sie blocken ab, weil sie nicht entmündigt werden wollen: Nicht noch ein Dienst, der ihnen sagt, wie sie ihr Kind behandeln sollen.

Die Schicksale gehen auch an den Ärzten und Pflegekräften nicht spurlos vorüber, sie arbeiten alle nur in Teilzeit für das Kinderpalliativteam. Wenn die Krankenkassen es genehmigen, können sie vielleicht bald einen Psychologen oder Seelsorger mit ins Team holen, der Entlastung bringt. „Es ist gut, die Familien nicht alleinzulassen und den Kindern ihren Wunsch zu erfüllen, zu Hause zu sein“, sagt Claudia Blattmann. Aber als Ärztin will sie auch heilen – deshalb arbeitet sie weiter auf der Krebsstation des Olgahospitals. Ihr Ausgleich, sagt sie. Die Heilungschancen seien bei krebskranken Kindern nicht schlecht.

Wer Kinder sterben sehe, sagt Claudia Blattmann, lerne nicht einen anderen Umgang mit dem Tod, sondern einen anderen Umgang mit dem Leben.

Nach der letzten Transplantation gaben die Ärzte Gionatan noch ein paar Jahre

Das zweite Ziel an diesem Tag ist Steinheim, 40 Minuten von Stuttgart, und jetzt ist die Onkologin Kerstin Richter mit dabei. Die Wohnung von Familie Curia ist im Vorderhaus einer Metallverarbeitungsfirma, die Nachmittagssonne knallt in die Hofeinfahrt. Im Treppenhaus kommt ein Chihuahua entgegen, Gionatan Curia bleibt an der Tür stehen. Es gehe schlecht heute mit der Atmung, sagt er und grinst. Noch einer, dem die Hitze zu schaffen macht. Gionatan Curia, Jogginghose, lässiges T-Shirt, goldene Ohrstecker, hatte als Kind einen schweren Immundefekt, viermal erhielt er deshalb Knochenmarkspenden. Nach der letzten Transplantation vor vier Jahren, einer Risikotransplantation, waren seine inneren Organe so geschädigt, dass die Ärzte ihm nur noch ein paar Jahre gaben.

Jetzt ist Gionatan Curia 20, und seine Lunge hat noch eine Leistungsfähigkeit von 18 Prozent. Manchmal geht ihm nach einem Satz schon die Luft aus, an solchen Tagen legt er sich immer wieder den Schlauch des Sauerstoffbehälters an die Nase. „Diese Atemnot ist das Schlimmste“, sagt er, und seine Mutter nickt mit angespanntem Blick. Karin Jäckle kramt im Rucksack mit den Arzneimittelpackungen nach einem Schmerzmittel, das Gionatan nicht sowieso schon nimmt. Tramal-Tropfen, Cortison-Zäpfchen, Morphium – es gibt Situationen, da zählt nur, dass die Schmerzen weggehen und die Anspannung in der Brust. Die Morphium-Spritze, die Kerstin Richter Gionatan in den Bauch setzt, wirkt schon nach ein paar Minuten.

Am meisten ärgert Gionatan Curia, dass die schwache Lunge seinen Körper insgesamt schwächt. Vor ein paar Tagen hatte ein Freund Geburtstag, drei Kilometer von hier, aber zu Fuß schafft er das nicht mehr und sein Auto ist kaputt. Er ist dann mit einem elektrischen Rollbrett gefahren, einem Hoverboard, und sein Kumpel lief die ganze Strecke nebenher. „So normal wie möglich weitermachen“, sagt Gionatan.

Gionatan weiß, dass es bald zu Ende geht, er hat es akzeptiert

Die Schule, bei der er seine Ausbildung als Bürokaufmann macht, schickt ihm die Unterlagen per E-Mail zu. Sein neues Pflegebett hat eine verstellbare und eine normale Matratze, damit seine Freundin bei ihm übernachten kann. Vergangene Woche war er im Urlaub in Italien, darauf hat er lange gespart. Vielleicht genehmigt ihm die Krankenkasse auch endlich den Treppensteiger, er wartet seit Ewigkeiten darauf. Und vielleicht finden die Leute vom Palliativteam einen Sponsor, damit sein Auto repariert werden kann und er wegen der Kosten für Versicherung und Instandhaltung nicht ständig seine Eltern anhauen muss.

Auf seinem Oberarm hat Gionatan drei Wörter tätowiert: „Forza, Esperanza, Fortuna“ – Kraft, Hoffnung, Glück. Er hat akzeptiert, dass er sterben wird, das merkt man an der ruhigen Art, mit der er über seinen Tod spricht. Aber man merkt auch, dass er sich die verbleibende Zeit nicht nehmen lassen will. Nur wenn er alleine sei, komme manchmal alles hoch, sagt er, aber nach außen zeige er ein Lachen. Und manchmal macht er sich über seine schlechte Atmung und all die Medikamente lustig.

„Wenn es zu Ende geht, will ich nicht an irgendwelchen Maschinen künstlich am Leben gehalten werden“, sagt er, als er mit Kerstin Richter die Patientenverfügung ausfüllt. Wie schafft es jemand, der nicht mehr lange zu leben hat, trotzdem noch diese Kraft aufzubringen?

Mit dem Tod geht jeder anders um, sagt Kerstin Richter, als sie wieder ins Auto steigt. Von Gionatan Curia ist sie immer wieder beeindruckt. „Lebemensch“, nennt sie ihn. Manchmal liegen Leben und Tod nah beieinander.