Das Vorgehen der Ermittlungsbehörde im Fall des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Edathy ist ein rechtsstaatlicher Skandal. Wenn einer durch gerade noch straffreies Verhalten einen Anfangsverdacht auf sich lenkt, wird ihm Verbotenes unterstellt.

Stuttgart - Der Rechtsstaat unterscheidet sich vom autoritären Polizeistaat dadurch, dass er das Strafrecht begrenzt, nicht jedes sozialschädliche oder auch nur ekelhafte Verhalten strafrechtlich sanktioniert, die Strafen über alle Deliktstypen hinweg je nach ihrer Schwere mit annähernd gleich hohen Strafen bedroht, die selbst gesetzten Regeln einhält – und um die Schwächen und Fehler der Menschen weiß.

 

Wer stellt Kinderpornos her?

Die Produktion und der Vertrieb von Kinderpornografie ist ein lukratives Geschäft. Es wird von international tätigen Firmen oft über das Internet betrieben, im Fall Edathy beispielsweise von der kanadischen Firma Azov Films. Diese Firmen bieten häufig ganz unterschiedliches Material an, auch vergleichsweise harmlose Produkte, mit denen sie ihre Kunden „anzufüttern“ versuchen. Das Ausmaß dieser Form des Handels mit Kinderpornografie ist umstritten. Bekannt werden einzelne spektakuläre Fahndungsrefolge wie im Herbst 2010 bei Azov Films. Die Firma belieferte Kunden in 94 Ländern. Hunderte von Kindern wurden identifiziert, die Opfer dieses Missbrauchs geworden waren.

Mindestens ebenso bedeutsam wie der materiell motivierte Vertrieb ist der Tausch von – häufig besonders harter und gewalttätiger – Kinderpornografie durch Einzeltäter, die meist kein finanzielles Interesse haben, sondern ihre Triebe ausleben. Diese Täter schotten sich immer stärker ab, sind im allgemein zugänglichen Internet nicht zu finden. Die Opfer sind häufig die eigenen Kinder.

Es gibt ganz unterschiedliche Formen der Kinderpornografie, darunter schlimmste Gewalttaten. Die Herstellung von Kinderpornografie ist oft ein furchtbares, stets aber folgenreiches Verbrechen, das die Opfer schwer traumatisieren und für ihr Leben zeichnen kann. Herstellung und Vertrieb von Kinderpornografie wird mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft, immer dann, wenn es entweder um kommerzielle oder aber um die Straftaten einer Bande geht. Häufig wird die Strafe erhöht, weil gleichzeitig der sexuelle Missbrauch von Kindern vorliegt. Diese Täter sind schwer zu fassen. In der öffentlichen Diskussion und Wahrnehmung spielen die Herstellung und der Vertrieb von Kinderpornografie eine untergeordnete Rolle.

Weshalb ist der Besitz strafbar?

Es gibt im deutschen Recht keinen anderen Bereich – auch nicht in der Terrorabwehr –, in dem die Strafbarkeit einer Handlung so weit vorverlagert worden ist wie beim Besitz von Kinderpornografie. Es gibt auch nur ganz wenige Paragrafen, die so oft und so hart verschärft worden sind.

Bestraft wird bereits ein Mensch, der sich einschlägige Videos, Fotos, aber auch realitätsnahe Zeichnungen anschaut oder entsprechende Texte liest. Dabei wird unterstellt, dass er sich dabei sexuell stimuliert. Der Gesetzgeber hat die Strafbarkeit auf den Besitz beschränkt, die Rechtsprechung hat die Strafbarkeit aber – faktisch jedenfalls – für das Internet auf das Betrachten ausgeweitet. Die Argumentation war, dass das kurzfristige und vom Betrachter oft nicht realisierte Zwischenspeichern von Daten im Rechner bereits ein „Besitzen“ sei.

Der Strafrahmen reicht bis zu zwei Jahren Haft. Bereits der Versuch, also beispielsweise das Googeln nach kinderpornografischem Material, ist strafbar. Was viele nicht wissen: die Strafbarkeit wurde inzwischen auch auf „jugendpornografische Schriften“, also auch auf Bilder von Jugendlichen im Alter zwischen 14 und 18 Jahren erweitert. Der Strafrahmen reicht hier bis zu einem Jahr Haft.

Begründet werden diese Regeln mit dem Schutz der Kinder, auch wenn der Missbrauch zweifellos vom Hersteller der Kinderpornografie begangen wird. Die rechtliche Ableitung ist, dass die Nutzer der Kinderpornografie erst die Nachfrage dafür schaffen, dass die Haupttäter ihre Verbrechen begehen.

In anderen Bereichen des Strafrechts wird dies anders gesehen. So kann es keine Zweifel geben, dass erst die Drogensüchtigen die Nachfrage und damit die Geschäftsgrundlage für die Verbrechen der Drogenkartelle schaffen. An den Folgen der Verbrechen der Drogendealer sterben in Deutschland jährlich überschlägig 1000 Menschen, unzählige Opfer – die ja rechtlich alle zugleich auch Täter sind – sind für ihr Leben gezeichnet. Dennoch ist der Drogenkonsum von kleinen Dosen für den eigenen Gebrauch in Deutschland straffrei.

Was ist Pädophilie?

Was ist Pädophilie?

Pädophilie ist eine lebenslange Prägung, bei der sich das sexuelle Interesse auf Kinder richtet. Sie ist nicht zu verändern, nur sublimierbar. Entscheidend ist, sexuelle Handlungen mit Kindern zu verhindern. Die Zahl der Pädophilen liegt in Deutschland nach unsicheren Schätzungen bei 50 000 bis 200 000 Männern. Pädophile meiden nicht selten den Kontakt zu Kindern, wer aber straffällig wird, wird oft rückfällig. Viele Konsumenten von Kinderpornografie sind keine Pädophilen. Auch beim sexuellen Missbrauch von Kindern gibt es ganz unterschiedlich motivierte Täter.

Ob es einen Zusammenhang zwischen dem Konsum von Kinderpornografie und anderen sexuell motivierten Straftaten gibt, ist strittig.

Welche Darstellungen sind strafbar?

Bei Kinderpornografie gilt: strafbar ist zunächst das Abbilden aller Formen sexueller Handlungen, egal ob sie von anderen oder von den Opfern selbst vorgenommen werden. Dazu zählt beispielsweise auch das Berühren der Brust. Strafbar sind auch Aufnahmen, in denen die Geschlechtsorgane „zur Schau gestellt werden“, das sogenannte Posing. Nicht strafbar ist dagegen das Abbilden nackter Kinder oder Jugendlicher – beispielsweise am Strand oder in der Sauna. Deshalb war nach dem aktuellen Stand auch aus Sicht der Staatsanwaltschaft der Besitz der Aufnahmen, die der SPD-Politiker Sebastian Edathy von Azov Films bezogen hat, nicht strafbar.

Es gibt freilich viele Graubereiche, weil die neuen gesetzlichen Regelungen mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht in Einklang zu bringen sind und durch die Strafverschärfungen vieles strafbar geworden ist, was früher nicht nur straffrei, sondern gesellschaftlich anerkannt war. So ist das Buch „Zeig mal!“ des bekannten Fotograf en Will McBride, der eine ganze Generation geprägt hat, zwar vom Markt genommen worden, wird aber noch immer zu horrenden Preisen antiquarisch gehandelt. „Zeig mal!“, 1974 in einem Verlag, der der evangelischen Kirche nahestand, veröffentlicht, wurde seinerzeit hochgelobt und mit Preisen bedacht. Es enthält Fotos von Kindern, die heute andernorts zweifelsfrei als strafbar eingestuft werden und für eine Verurteilung ausreichen würden, weil sie sexuelle Handlungen zeigen.

Gemälde von Egon Schiele, der die besonders betonten Geschlechtsorgane der von ihm gemalten Kinder in den Mittelpunkt seiner Arbeiten rückt, bleiben selbstverständlich in den Museen ausgestellt; ihn schützt der Kunstvorbehalt. Comics, insbesondere japanische Mangas mit ebenso provozierenden Inhalten, gelten als strafbar. Der 1906 in einem kleinen Wiener Verlag unter Pseudonym erschienene Skandalroman „Josefine Mutzenbacher“, obwohl zutiefst kinderpornografisch, darf nach wie vor vertrieben werden. Obwohl auch hier nicht alle Leser allein wegen der Schönheit der Sprache zur Lektüre gebracht werden.

In der Praxis entscheidet nicht mehr der objektive Tatbestand des Besitzes von Kinderpornografie über die Strafbarkeit. Das würde auch zu absurden Ergebnissen führen. Die Strafverfolger sortieren vielmehr danach, welche Verdächtige ihnen suspekt erscheinen. Es gibt ein neues Strafrecht der vermeintlichen sexuellen Prägung.

Wo beginnt der Anfangsverdacht?

Wo beginnt der Anfangsverdacht?

Das Vorgehen vieler Ermittler, nicht nur das der Staatsanwaltschaft Hannover im Fall Edathy, belegt die Problematik: Für die Fahnder dort genügte die Tatsache, dass sich der SPD-Politiker erlaubte Nacktfotos von Jungen gekauft hat, für den Anfangsverdacht, dass er auch verbotenes Material besitzt. Weil das nach ihrer Erfahrung häufig so ist. Und ein Richter unterschrieb einen Durchsuchungsbefehl. Wenn ein Bürger etwas gerade noch Erlaubtes tut, kann man zwei Vermutungen haben: dass er sich bemüht, das Recht einzuhalten. Oder dass er unerkannt bereits das Verbotene getan hat. Im Rechtsstaat galt bisher die erste Vermutung. Und deshalb ist das Vorgehen – nicht nur der Hannoveraner Justiz – ein rechtsstaatlicher Skandal. Auch im Fall des Kunstsammlers Gurlitt, der nicht mit Kinderpornografie, sondern mit vermeintlicher Steuerhinterziehung zu tun hatte, wurde so verfahren: Die Tatsache, dass er eine erlaubte Geldmenge aus der Schweiz kommend mit sich führte, genügte für eine Durchsuchung, die bis heute in keine Anklage mündete. Es ist aber bisher nicht bekannt geworden, dass gegen einen Polizeibeamten nur deshalb ein Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt eingeleitet worden wäre, weil Staatsanwälte erfahren haben, dass er in Einsätzen hart, aber eben noch rechtlich einwandfrei gehandelt hatte.

Was sind die Folgen?

Die Strafe, die später möglicherweise ein Richter ausspricht, ist für die Betroffenen das geringste Problem. Es gibt keinen anderen Verdacht, der so stigmatisiert wie der Vorwurf, Kinderpornografie zu besitzen. Allein die Behauptung reicht für die gesellschaftliche Ächtung. Und weil das so ist, sind jene, die in Verdacht geraten, faktisch erpressbar, gerade auch von den Strafverfolgern. Wer die Öffentlichkeit so fürchten muss, der lässt sich auf jeden Deal ein und verzichtet auf Rechtsmittel, die ihm zustünden. Es ist ja kein Zufall, dass diese Rechtsschöpfung des Anfangsverdachts durch straffreies Verhalten erst durch den Fall Edathy bekannt geworden ist. Die Rechtsentwicklung kann übrigens nicht überprüft und kritisch gewürdigt werden, weil keiner außer den Fahndern und den unmittelbar Prozessbeteiligten das sehen darf, worüber geurteilt wird. Bereits das wäre strafbar.

Das Bundesverfassungsgericht hat in vielen kleinen Beschlüssen die allzu leichtfertige Praxis der Strafverfolger bei Wohnungsdurchsuchungen kritisiert und eine sorgfältigere Abwägung gefordert. Wer diese Beschlüsse liest und den Sachverhalt auf Edathy überträgt, muss zu dem Schluss kommen, dass auch diese Durchsuchung unzulässig war. Fragt sich nur, ob die Verfassungsrichter den Mut hätten, auch bei dem Verdacht der Kinderpornografie an ihrer streng rechtsstaatlichen Linie festzuhalten.

Unter den Juristen wird über fast alles, auch über Abwegiges gestritten, mit Lust und manchmal mit Erbitterung. Über die Grenzen des Rechtsstaats bei der Verfolgung von Kinderpornografie redet und schreibt fast niemand. Zu groß ist die Angst aller Beteiligten, einen „Shitstorm“ zu erleben. Die öffentliche Erregung treibt das Recht vor sich her.