Der Stuttgarter Kinder- und Jugendpsychiater Reinmar du Bois erklärt, wie Jungen und Mädchen hier auf das Schulmassaker in der amerikanischen Stadt Newtown reagieren. Für die allermeisten Kinder, sagt er, ist der Amoklauf kein Thema.

Stuttgart – Reinmar du Bois ist der Ärztliche Direktor der Stuttgarter Kinder- und Jugendpsychiatrie im Olgahospital. Der Professor hat sich mehrfach mit Amokläufen befasst, auch als Gutachter im Winnenden-Prozess.
Herr du Bois, wie sehr berührt die Tragödie in Newtown unsere Kinder hier?
Es gibt zwei Extreme. Sehr wenige einzelne fühlen sich persönlich angesprochen und sind fasziniert. Wo auch immer es passiert ist, sie beschaffen sich Informationen über die Tat. Der ganz große Rest beschäftigt sich damit überhaupt nicht, er lässt es nicht an sich herankommen. Dafür ist das Geschehene nicht greifbar und viel zu weit weg. Die weltweite öffentliche und politische Bestürzung ist für Kinder kein Thema. Bei Erwachsenen ist das, wenn man ehrlich ist, nicht anders: wenn wir nicht unmittelbar selbst an einem Kriegsschauplatz leben, löst dieser keine Ängste aus. Auch der elende Tod von hungernden Kindern in Afrika oder Straßenkindern in Südamerika versetzt Mädchen und Jungen hier nicht in Angst, und das ist auch gut so..

Ist das ein Schutzmechanismus?
Ja, es ist eine gesunde Verteidigung des seelischen Gleichgewichts und hat nichts damit zu tun, dass das menschliche Mitgefühl fehlt. Die Welt ist voller Gefahren. Man darf sich abgrenzen und so tun, als wäre alles in Ordnung, sonst kann man nicht normal leben. Man nennt das Common Sense.

Wie sollten Eltern und besonders Lehrer, die heute zum ersten Mal seit der Tat vor ihre Klasse treten, den Amoklauf ansprechen?
Wenn sie es thematisieren und auf einer sachlichen Ebene bleiben – etwa bei der Frage, wem die Kinder, wenn sie entscheiden dürften, erlauben würden, gefährliche Schusswaffe zu besitzen oder zu gebrauchen. Das Thema kann man je nach dem Alter der Kinder unterschiedlich gestalten. Ein distanzierender Gesprächsstil ist wichtig. Man muss betonen, dass Amokläufe in extremen psychischen Ausnahmezuständen verübt werden. Die Lehrer müssen sich klar machen, dass Kinder im Großen und Ganzen solche Ereignisse eben nicht auf sich übertragen, auch nicht, wenn man Winnenden erwähnen würde. Winnenden braucht kein Tabuthema zu sein. 99 Prozent der Kinder wissen von sich und ihrem sozialen Umfeld genau, dass niemand so etwas tun würde. Ängstliche Kinder bleiben in der Minderheit und werden von ihren Mitschülern aufgefangen. Erwachsene haben die Pflicht, nicht ihre eigene Betroffenheit und Angst mitzubringen. Gespräche über dieses Thema werden am besten von Personen moderiert, die eine natürliche innere Ausgeglichenheit besitzen. Die anderen müssen sich zurückhalten. Es ist nun einmal die Unsicherheit einzelner Erwachsener, nicht die Tat an sich, welche die Kinder, wenn überhaupt, beunruhigen könnte.