Als Kind zog der Eritreer Binjan Abraham in den Unabhängigkeitskrieg gegen die Äthiopier, heute sucht er Schutz in Deutschland.

Stuttgart - Wenn es stürmt, donnert und der Wind faucht, kommen immer wieder diese Panikattacken. Noch 30 Jahre danach. Damals, als er im Hochland von Eritrea kämpfte, gab es oft Gewitter. Oder manchmal reißt ihn nachts irgendwas aus dem Halbdämmer, und er greift reflexartig nach seinem Maschinengewehr. Da steht aber keins. In dem Dorf bei Biberach, wo er jetzt lebt, braucht man keine automatischen Waffen. Die Angst ist trotzdem da. Eine Mitbewohnerin entdeckte ihn mal, nachdem sie seltsame Laute aus seinem Zimmer gehört hatte, auf dem Teppichboden: geduckt mit einem Besen in der Hand, gefechtsbereit im Schutz der Dunkelheit.

 

Es gab eine Zeit, da war die Kalaschnikow ein Teil von ihm. Mit 14 frisierte er keine Mofas, sondern wehrte sich gegen die verhassten Besatzer. Er schaute kein "Bonanza" im Fernsehen, sondern feuerte Granaten auf äthiopische Miliz. Die Pubertät übersprang er, bei seiner Revolte ging es um Leben und Tod. Binjan Abraham, der Freiheitskämpfer. Binjan, der Kindersoldat.

Er darf hier bleiben, solang er will

Heute ist er 45. Der zierliche Mann begrüßt einen mit feuchten Händen und zaghaftem Lächeln, eine Goldkette glänzt auf der dunklen Haut. Er erzählt in tadellosem Deutsch, zündet sich immer wieder eine Marlboro an. Binjan Abraham will nicht, dass sein wirklicher Name genannt, sein Gesicht auf Fotos gezeigt wird. Ihm passiert nichts. Mit seiner Niederlassungserlaubnis darf er in Deutschland bleiben, solang er will. Aber da sind seine Verwandten daheim: "Sage ich was Falsches, müssen sie leiden."

Als Binjan Abraham 1966 in Keren, der zweitgrößten Stadt Eritreas, zur Welt kommt, ist sein Land vom Nachbarn Äthiopien annektiert, sein Volk politisch entrechtet. Davon spürt er nichts, er hat immer genug zu essen, kann ungestört spielen, ist ein unbeschwertes Kind. Er geht gern zur Schule, auch wenn er da Äthiopisch sprechen muss. Von Gesprächen, die er zu Hause aufschnappt, weiß er, dass die Soldaten und Polizisten in der Stadt böse sind und die Leute in den Bergen und den Dornbuschsavannen gut.

In Binjan wächst der Keim des Widerstands

Was das genau bedeutet, wird ihm mit neun Jahren klar. Nach dem Sturz von Kaiser Haile Selassie herrscht jetzt eine Militärjunta - der berüchtigte Derg. Binjan wird auf dem Heimweg von der Schule Zeuge, wie ein eritreischer Zivilist am Straßenrand auf einen Soldaten einredet, ihn beschimpft. Als Antwort schießt der Soldat dem Mann in den Kopf. Und in einem kleinen Buben namens Binjan, der das alles mitangesehen hat, wächst der Keim des Widerstands.

1977 übernimmt der Kommunist Mengistu Haile Mariam die Macht im Derg. Nicht lange, und er trägt den Beinamen "Schlächter von Addis". Hunderttausende fallen dem "roten Terror" zum Opfer. Binjan lernt Mengistus Methoden aus nächster Nähe kennen. Dessen Schergen beginnen eines Tages 200 Meter hinter Binjans Haus, große Löcher zu graben. Nachts darauf hört der Junge Lastwagen und dann "Schreie, die nicht aufhören wollten". Irgendwann ist es wieder still. Am nächsten Morgen geht Binjan zu der Stelle hin: "Überall Blut, Kleider, Hände, die aus dem Sand ragten. Sie hatten die Menschen geschlachtet und in die Löcher geworfen. Das wiederholte sich fast jede Nacht, drei Monate lang." Wenn Binjan die Lastwagen hört, vergräbt er sich im Bett. Mit jedem nächtlichen Schrei wird sein Hass größer.

Er will bei den Rebellen mitmachen

Den Sommer verbringt er im Dorf, aus dem sein Vater stammt. Zum ersten Mal begegnet er echten Rebellen. Er will mitmachen - und gehört bald zum Separatistennachwuchs. Mit drei gleichaltrigen Freunden verteilt er Flugblätter in der Stadt, versorgt die Widerständler in den Bergen mit Zigaretten und Medikamenten. Das geht gut, bis Binjan 13 ist. Eines Tages erwartet ihn seine Großmutter nach der Schule mit gepackter Provianttasche: "Du musst schnell weg." Seine Freunde sind schon verhaftet. Die Stadt, die Schule, sein früheres Leben - vorbei.

Das zwei Tagesmärsche entfernte Widerstandslager ist eine kleine Stadt für sich mit 1000 Einwohnern, blickgeschützt unter Palmen. Es gibt eine Schule, Musikunterricht, Binjan lernt Arabisch und Englisch. Und ständig sind Trauerfeiern. Binjan will kämpfen, andere Kinder in seinem Alter dürfen das schon. Aber sein Onkel, eine Art General, lässt ihn nicht. Irgendwann schleicht sich der Junge fort, stiefelt fast bis ans Rote Meer, wo gerade gekämpft wird. "Da konnten sie nicht mehr anders, ich gehörte dazu", sagt er. Binjan ist 14. Er bekommt eine MG, Handgranaten und eine etwas zu große grün gefleckte Tarnuniform. Gleich beim ersten Gefecht gerät er in einen Hinterhalt. "Ich hab einfach geschossen, ich weiß nicht wohin." Er ist begeistert, endlich ein Krieger zu sein. Bei aller Militäridisziplin lässt der Kommandant den Buben einen Rest Kindheit: "Wir durften auch herumalbern und die Leute veräppeln."

Rachelust ist stärker als Angst

Rachlust ist stärker als Angst. Nur nach einem Feuerwechsel, wenn schon alles vorbei ist, beginnt Binjan manchmal am ganzen Körper zu zittern. Das Zittern kommt öfter. Manchmal laufen Bilder ab wie im Western: ein Kamerad will ihn schützen, stößt ihn zu Boden und wird in dem Moment von einer Kugel getroffen. Eine andere Szene: Binjan und Freunde sitzen um einen Tisch, da fällt eine Bombe. "Sonst hörte man Flugzeuge immer vorher, diesmal knallte es nur." Er überlebt als Einziger und fragt sich: "Wieso habe gerade ich an dem Platz gesessen?"

Nach zwei Jahren ist offensichtlich: er verkraftet den Krieg nicht mehr. "Das Schlimme war nicht, dass ich so viele sterben sah. Das Schlimme war, dass ich alle meine Freunde sterben sah", sagt er. Dann der Schlusspunkt: in einem Mangrovenhain treffen die Rebellen urplötzlich auf Regierungssoldaten. "Alle ballerten sofort wie verrückt aufeinander los. Es gab nichts zu erobern, keine Stellung zu halten, das war für nichts und wieder nichts", sagt er. "Ich habe das im Kopf nicht mehr ausgehalten."

Binjan will Eritreer sein

In jener Nacht haut er ab. Nach vier Tagen erreicht er den Sudan. Er ist 16 und hat noch den Zettel von seiner Großmutter mit den Adressen von Verwandten bei sich. Die geben ihm Geld für den Flug. "Geh nach Deutschland", rät man ihm. Binjan landet in einem Karlsruher Asylbewerberheim. Er wird als Flüchtling anerkannt.

Fast 30 Jahre sind vergangen. Er hat einen Sprachkurs gemacht, einen Berufsorientierungskurs besucht, bei Paketdiensten gearbeitet, eine Mechanikerlehre angefangen, dann Koch gelernt. Er hat sich um Asylantenkinder gekümmert, ihnen Deutsch beigebracht und mit ihnen Fußball gespielt. Zurzeit steht er Abend für Abend am Herd eines mexikanischen Restaurants. Ein fleißiger Steuerzahler.

Was blieb von der großen Hoffnung

 Binjan Abraham ist immer noch nicht ganz angekommen. Er könnte längst einen deutschen Pass haben, aber er will Eritreer sein. Er lässt nicht los, er hört nicht auf, seine Gedanken in die Heimat zu richten. Vor kurzem, als vor Lampedusa 250 Flüchtlinge ertranken, ahnte er gleich: da sind wieder viele von uns dabei. So war es dann auch. "Die Leute wollen nur noch weg."

Am 24. Mai 1993 wurde Eritrea wieder unabhängig, ein Triumph für die Volksbefreiungsfront. Doch was blieb von der großen Hoffnung? Isayas Afewerki, der Jahrzehnte gegen die Unterdrücker kämpfte, ist jetzt selbst ein Diktator, der jeglichen Freiheitsfunken in dem kleinen Land am Horn von Afrika erstickt. Auch im Ausland, wo ein Drittel der fünf Millionen Eritreer leben, wagen nur wenige, den Mund aufzumachen. "Wenn eritreische Vereine hier Landsleute zu Festen einladen, steht dahinter die Regierung, die uns kontrollieren will", sagt Binjan Abraham. Um die Familie in der Heimat vor Schikanen und Übergriffen zu schützen, überweise jeder Auslandseritreer zwei Prozent seines Gehalts an das Regime. Binjan Abraham hat sich hartnäckig entzogen. Eine Zeit lang gehörte er zu der Untergrundbewegung, die Afewerki vom Ausland aus stürzen will. "Aber es war reine Zeitverschwendung. Wir können hier nichts tun, außer reden, reden, reden. Und zu Hause wird es schlechter und schlechter."

Manchmal telefoniert er mit zu Hause

Amnesty International wirft dem eritreischen Präsidenten vor, politische Gegner zu verfolgen. Von Menschen, die in Containern ohne Sanitäranlagen zusammengepfercht oder in unterirdische Verliese gesperrt werden, ist die Rede. "Gefangene mussten an Händen und Füßen gefesselt und mit Seilen an Bäumen aufgehängt in schmerzhaften Stellungen lange Zeit in der Sonne ausharren - eine Methode, die als Hubschrauber-Folter bezeichnet wird", heißt es im Jahresbericht 2007.

Es herrsche reine Willkür, sagt Binjan Abraham: "Mein Bruder wurde einfach in ein Arbeitslager verschleppt. Nach einem halben Jahr brachte man ihn zurück, seine Familie wusste nicht mal, ob er überhaupt noch lebt." Binjan Abraham telefoniert manchmal mit zu Hause: "Es ist ein kaputtes Land", sagt er. Auch in ihm ist etwas kaputt: Er wird die Schuldgefühle nicht los. Die Selbstvorwürfe, seine Kameraden verlassen, ihren Tod verursacht zu haben. Dass er gezielt zigfach tötete, verdrängt er.

Die Albtraumnächte sind etwas seltener geworden in den vergangenen Jahren. "Die Schlafstörungen werden wahrscheinlich nie weggehen", sagt Binjan Abraham. "Manchmal wünsche ich mir, man würde ganz Eritrea einfach ausradieren und von neuem anfangen."

Ein großes Stück Freheit

Unbegrenzt: Die Niederlassungserlaubnis ist unbefristet. Sie wird formal als gelber Zettel in den blauen Flüchtlingspass geheftet, der weltweit, außer im Heimatland des Asylanten, gilt. Diese Erlaubnis bedeutet ein großes Stück Freiheit. Nach Paragraf 9 des Aufenthaltsgesetzes berechtigt sie zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit im gesamten Bundesgebiet und darf nur in Ausnahmefällen mit Nebenbestimmungen - etwa einem politischen Betätigungsverbot - versehen werden. Ausländer mit jenem gelben Zettel können sich frei bewegen sowie Ehegatten und Kinder unter 18 Jahren nachholen.

Schutz: Die Niederlassungserlaubnis erhält ein Ausländer, wenn er seit mindestens fünf Jahren eine Aufenthaltserlaubnis besitzt, sein Lebensunterhalt gesichert ist, er fünf Jahre Rentenbeiträge gezahlt hat, über ausreichend Wohnraum verfügt und nicht vorbestraft ist. Außerdem muss er gut Deutsch sprechen und den Einbürgerungstest bestehen. Auch mit dieser Erlaubnis kann er den Status als Flüchtling wieder verlieren. Doch schützt der Titel in besonderem Maß vor Ausweisung. Abgeschoben wird in der Praxis nur, wer schwere Straftaten begeht.