Wer sich früh kümmert, kommt auch zum Zuge – das gilt nicht nur beim Kita-Platz, sondern auch beim Kinderturnen. Wer sein Kind erst im Vorschulalter anmeldet, geht oft leer aus. Doch die neuen Drachenkurse sollen Abhilfe schaffen.

Familie/Bildung/Soziales: Viola Volland (vv)

Stuttgart - Andere Kindergartenkinder hüpfen auf einem Bein durchs ganze Zimmer, Marco bekommt nicht mal zwei Hüpfer hin – als fast Sechsjähriger. Ihr Sohn sei durchaus bewegungsfreudig, doch er habe einen niedrigen Muskeltonus, deshalb mangele es ihm an Stabilität, berichtet seine Mutter, Michaela Werner (Namen von der Redaktion geändert). Marco gehört zu den Kindern, bei denen das Stuttgarter Gesundheitsamt im Jahr 2016 motorische Auffälligkeiten bei der Schuleingangsuntersuchung festgestellt hat, weil er den Hüpf-Test nicht bestanden hat.

 

Wie berichtet, haben sowohl die motorischen als auch die sprachlichen Defizite in den vergangenen Jahren bei den Stuttgarter Kindern zugenommen – auch bei Kindern, die anders als Marco keine gesundheitlichen Vorbelastungen haben. 23 Prozent der untersuchten Vierjährigen schafften es nicht, vier bis fünf Mal auf einem Bein zu hüpfen, bei den gerade Fünf Gewordenen gelang es 28 Prozent nicht, sieben Hüpfer jeweils rechts und links zu bewältigen.

Im Gesundheitsamt habe man ihr geraten, mit Marco zum Kinderturnen zu gehen, berichtet Michaela Werner. Doch das habe bisher nicht geklappt. Sie habe ihn bei mehreren Vereinen auf Wartelisten setzen lassen. Als Marco ein Kleinkind war, sei sie mit ihm zur Physiotherapie gegangen, während andere beim Eltern-Kind-Turnen waren. „Eltern-Kind-Turnen ist aber die Eintrittskarte ins Kinderturnen“, glaubt sie.

Was ist, wenn Eltern sich erst melden, wenn der Kinderarzt Alarm schlägt?

Im Idealfall läuft es so: Zuerst kommt die Krabbelgruppe, dann machen die Kinder alleine weiter, um sich als Schulkinder zu spezialisieren. Wenn man früh dabei sei, wachse man rein, „im Alter von sechs Jahren geht es oft in die leistungssportliche Richtung“, so drückt es der Sportwissenschaftler Andi Mündörfer aus, der beim städtischen Sportamt für die Bewegungsförderung zuständig ist. Doch was ist mit den Kindern, deren Eltern den Anfang verpasst haben und die sich erst melden, wenn der Kinderarzt Alarm schlägt? Dann kann es sein, dass es nicht gleich klappt. „Je später man sich kümmert, desto länger muss man sich gedulden“, sagt zum Beispiel der Leiter der Kindersportschule des MTV-Stuttgart, Daniel Wall-Massetti. Sie hätten viele Gruppen mit Wartelisten, allerdings bewegten sich die Zahlen bei höchstens 15 Kindern. Am beliebtesten seien die Montagskurse und die Angebote, die nur einmal wöchentlich stattfinden. Mehr könne man trotz der hohen Nachfrage nicht anbieten: Es mangele an Hallen.

Auch beim TUS Stuttgart sind die Hallen komplett ausgelastet. Das Konzept – einmal die Woche, ohne Leistungsdruck, Spiel und Spaß stehen im Vordergrund – führt zu einer enormen Nachfrage: Der Leiter von Tus Kids, Markus Brenner, berichtet, dass bei den Jahrgängen 2011, 2012 und 2013 jeweils rund 70 Kinder auf der Warteliste stünden. Mit vier Jahren beginnt die Kindersportschule, davor kommt das Eltern-Kind-Turnen. Bei ihnen gebe es sogar schon für den 2016er Jahrgang Vormerkungen für die Sportschule, so Brenner. Eltern meldeten ihre Kinder also schon drei Jahre im Voraus an – als ginge es um einen Kita-Platz. Ausnahmen könne man keine machen, weil ein Kind es angeblich besonders nötig habe. Schließlich hätten alle Kinder Sport nötig, so der staatlich geprüfte Sportlehrer. Nach dem Schuleintritt sei aber vieles in Bewegung, da könnten Wartelistenkinder leichter reinrutschen.

Vereine sind gegen gesondere Kurse für auffällige Kinder

Gesonderte Kurse für motorisch auffällige oder adipöse Kinder sieht man bei der Stadt nicht als Lösung an. „Wenn ein Kind massiv übergewichtig ist, muss man den therapeutischen Ansatz wählen“, meint Andi Mündörfer. Daniel Wall-Massetti und Markus Brenner finden, dass Extra-Kurse für auffällige Kinder diesen einen Stempel aufdrücken. Es sei besser, die Kinder in bestehende Angebote zu integrieren, was man schon tue. Beide berichten von positiven Erfahrungen. Nur psychomotorisch auffälligen Kindern macht der MTV ein Extraangebot: die Flitzplatz-Gruppen für bis zu sechs Kinder. Zielgruppe sind laut Wall-Massetti zum Beispiel Kinder, die am Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom leiden und den kleineren Rahmen brauchen. Die Nachfrage sei aber gering, was sicherlich mit der dezentralen Lage in Botnang zutun habe.

„Wir setzen auf Prävention“, sagt Andi Mündörfer. Durch das Kita-Fit-Programm erreiche man Kinder aus mehr als 100 Kitas, die auf diese Art Zusatzsport bekämen, weil Vereine in die Einrichtungen kommen. Da die Stadt bei den Vorschulkindern aber noch Bedarf sieht, soll ein neues Kursangebot bei den Vereinen auf den Weg gebracht werden: die sogenannten Drachenkurse. Sie lehnen sich an den Bewegungspass an. „Die Kurse sind offen für alle Kinder, unabhängig von ihrem leistungssportlichen Interesse“, sagt Mündörfer. Die Vereine zögen bei dem Thema voll mit. 28 hätten sich für das neue Angebot zertifiziert, im Sommer sollen die ersten Kurse starten. Auch der MTV und der TUS Stuttgart wollen sich an den Drachenkursen beteiligen. „Wir stehen in den Startlöchern“, sagt Markus Brenner. Sportlehrer, die das umsetzen wollten, seien gefunden. Aber für die Drachenkurse bräuchten sie vor allem eines: freie Hallen.

Bei Marco hat es übrigens doch mit dem Sportkurs geklappt – in einer anderen Disziplin. Er lernt jetzt schwimmen.

Informationen zum Bewegungspass:

Die Stadt Stuttgart hat den Bewegungspass entwickelt, um die motorischen Fähigkeiten von Kindern abzubilden. Eltern bekommen diesen inzwischen auch bei der Schuleingangsuntersuchung vom Gesundheitsamt ausgehändigt. Im Bewegungspass sind Übungen enthalten: Dabei ahmen die Kinder Bewegungen von Tieren nach, zum Beispiel das Schlängeln der Schlange beim Slalom-Laufen oder das Känguru beim Hüpfen. Bewältigt man die Übungen, bekommt man zur Belohnung Aufkleber in den Bewegungspass geklebt. Wer 32 Drachenaufkleber gesammelt hat, hat sich ein eigenes Drachen-T-Shirt verdient. Das Amt für Sport und Bewegung gibt die Aufkleber auf Anfrage an Sportfachkräfte der Vereine und an Fachkräfte für Bewegungserziehung der Kitas aus. Das Sportamt rät Eltern, die Übungen aus dem Bewegungspass auch zuhause spielerisch auszuprobieren. Bewegung sollte zudem in den Alltag integriert werden, indem Kurzstrecken möglichst nicht mit dem Auto, sondern zu Fuß, mit dem Roller oder Fahrrad zurückgelegt werden.