In einer Mainzer Kita soll es unter Drei- bis Sechsjährigen über Monate hinweg zu sexuellen Übergriffen gekommen sein. Erzieher müssen besser hinschauen, sagt Michael Günter, der ärztlicher Direktor an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Stuttgart.

Klima und Nachhaltigkeit: Julia Bosch (jub)

Stuttgart - An einer katholischen Kindertagesstätte in Mainz soll es zu schwerer sexueller Gewalt, Übergriffen und Erpressung unter den Kindern gekommen sein – offenbar über einen längeren Zeitraum. Wir haben darüber berichtet. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, das Personal wurde entlassen. Nach den Vorfällen fragen sich nicht nur besorgte Eltern, wie so etwas geschehen konnte und wie man seine Kinder davor schützen kann. Wir sprachen mit Professor Michael Günter, dem ärztlichen Direktor an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Stuttgart.

 
Herr Günter, waren Sie schockiert, als Sie von den Vorfällen gehört haben?
Schockierend war für mich, dass die Erzieher da wohl über Monate hinweg die Augen verschlossen haben. Dass eine Situation in einer Gruppe derart eskalieren kann, hat man in zahlreichen psychologischen Experimenten festgestellt. Es ist bedrückend, dass die Erzieher nicht eingegriffen haben.
Wie lässt sich eine derartige Eskalation psychologisch erklären?
Die Rahmenbedingungen müssen stimmen. Grundsätzlich ist der Hang zu sexualisierter Gewalt unter Kindern größer, wenn die Kinder unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen sind. Aber auch bei Kindern behüteter Familien kann so etwas vorkommen. Außerdem spielt Gruppenzwang eine Rolle. Die Kinder solidarisieren sich häufig mit dem Starken, also demjenigen der die Gewalt ausführt, da sie nicht selbst Opfer werden wollen. Das ist nicht anders als bei Erwachsenen.
Sind einige Kinder in Kontakt mit pornografischem Material gekommen? Oder woher stammen die Ideen zu sexuell motivierten Handlungen?
Das denke ich nicht. Kinder im Alter zwischen drei und sechs Jahren sind sehr neugierig. Und ihre Neugierde bezieht sich auch stark auf ihre Geschlechtsteile. Sie wissen, wo überall an ihrem Körper etwas herauskommen kann und diese Stellen sind für sie besonders spannend. Außerdem merken Kinder in dem Alter bereits, dass auch Erwachsene sich mit solchen Dingen beschäftigten, selbst wenn nicht darüber gesprochen wird. So wird es umso faszinierender. Solche „Doktorspiele“ sind meist völlig harmlos und gehören zur Entwicklung von Kindern dazu.
Wo ist die Grenze zwischen Doktorspielen und sexualisierter Gewalt?
Sobald ein Machtgefälle im Spiel ist, also wenn ein Kind sich verletzt, gedemütigt oder erniedrigt fühlt, ist die Grenze überschritten. Spielerisches ausprobieren und gewaltsame Übergriffe können Kinder in diesem Alter üblicherweise völlig klar unterscheiden.
Ab wann kann man von sexuellen Störungen bei Kindern sprechen?
Das hängt mit der Quantität zusammen. Wenn Kinder alles Mögliche spielen und eben manchmal Doktorspiele machen, liegt das im Rahmen. Aber es gibt auch Kinder, die ständig mit solchen Dingen beschäftigt sind, beispielsweise sich dauernd in der Öffentlichkeit selbst befriedigen. Dann muss man aufmerksam werden.
Wie sollten Erzieher oder Eltern in einer solchen Situation, wie sie sich in Mainz vermutlich abgespielt hat, reagieren?
Man muss das unbedingt frühzeitig thematisieren mit den Kindern. Auch muss man klar sagen, was geht und was nicht mehr geht. In der Mainzer Kita müssen gravierende Fehler gemacht worden sein, indem man über einen solch langen Zeitraum über diese Entwicklung hinwegsah.
Bedürfen diese Kinder nun einer Therapie?
Man darf die Kinder nicht alle über einen Kamm scheren. Dort hat ein Gruppenprozess stattgefunden, dem sich vermutlich kein oder so gut wie kein Kind entziehen konnte. Sicherlich sind Kinder dabei, die völlig normal sind und keiner Therapie bedürfen. Man wird nun verschiedene Fragen bei jedem Kind einzeln prüfen müssen: War es depriviert? (Red: wenn ein Kind in verschiedener Hinsicht benachteiligt ist und dadurch keine guten Entwicklungschancen hat) Hat es bereits Erfahrungen mit Gewalt erlebt oder mit sexueller Gewalt? Wie verarbeitet das einzelne Kind die Erlebnisse, wurde es dadurch geschädigt?
Sexueller Missbrauch zwischen Erwachsenen und Kindern wird mittlerweile häufig thematisiert. Ist sexualisierte Gewalt zwischen Kindern ein Tabuthema?
Einerseits ja, andererseits aber auch nicht. Entweder wird weggeschaut oder es wird völlig übertrieben. Teilweise wird schon über sexuellen Missbrauch zwischen Kindern gesprochen, obwohl lediglich eine normale Beschäftigung mit kindlicher Sexualneugierde vorliegt.
Was sollten Erzieher und Eltern zur Prävention von solchen Vorfällen wie in Mainz tun?
Sie müssen unbedingt mehr über Gewalt und Sexualität sprechen. Und zwar in altersgerechter Weise, also nicht wie beispielsweise bei Jugendlichen über Verhütung. Es gibt viele sinnvolle Programme zur Gewaltprävention unter Kindern. Man muss sich die Kinder einzeln ansehen und wenn Auffälligkeiten bestehen sich therapeutische Hilfe holen. Häufig hilft es schon, die Kinder in ihrem Selbstbewusstsein zu stärken.
Denken Sie, dass die Kita in Mainz eine Aussicht auf Rehabilitation hat?
Ich denke ja. Alle Erzieher wurden dort entlassen. Wenn die Kita im September wieder eröffnet, dann mit neuem Personal und sicherlich auch mit einem neuen Namen und neuen Konzept und Aufsichtsstrukturen. Es ist gut, dass die Vorfälle nicht unter den Teppich gekehrt wurden, sondern sich das Bistum dem Thema stellt.