Seit Jahren streiten eine polnische Mutter und ein deutscher Vater um das Sorgerecht für die gemeinsame Tochter – im Oktober hat die Frau das Mädchen verschleppt. Jetzt wurde sie verurteilt, doch von dem Kind fehlt jede Spur.

Nachrichtenzentrale: Tim Höhn (tim)

Ludwigsburg - Thomas Karzelek weiß viel. Er erinnert sich an jedes Datum, an jeden Namen, kennt alle Akten zu seinem Fall. Er kann genau sagen, wann und wie oft er nach Polen gefahren ist, um, manchmal unterstützt von Detektiven, nach seiner fünfjährigen Tochter zu suchen. Nur eine Frage kann der 43-jährige Schwieberdinger nach sieben Monaten immer noch nicht beanworten: Wo ist die Tochter? „Ich habe kein Lebenszeichen, null“, sagt er.

 

Als die Vorsitzende Richterin des Ludwigsburger Amtsgerichts am Mittwoch den verzweifelten Vater befragt, sitzt zwei Meter entfernt auf der Anklagebank die Frau, die alle Antworten kennt. Aber sie rückt sie nicht raus. Die 36-jährige Polin ist Juristin, Mutter – und hat ihr Kind verschleppt.

Der Vater hat das Sorgerecht, aber das Kind ist verschwunden

Seit ihrer Trennung 2011 gibt es zwischen den Eltern Hass und den Kampf um die Tochter. Ein früheres Verfahren gegen die Mutter wurde vom Stuttgarter Landgericht gegen eine Geldauflage eingestellt, schon da hatte sie ihre Tochter unerlaubt nach Polen mitgenommen. Thomas Karzelek holte das Kind in einer Nacht-und-Nebel-Aktion zurück, und das Gericht gelangte zu der hilflosen Feststellung, es handle sich um eine „familiäre Tragödie“. Geboren wurde das Mädchen in Deutschland, und ein Familiengericht sprach dem Vater später das alleinige Sorgerecht zu.

Der schlimmste Akt der Tragödie stand da noch bevor. Unterstützt von einem bislang unbekannten Komplizen und ausgerüstet mit Pfefferspray überfiel die Mutter am 2. Oktober die neue Lebensgefährtin von Thomas Karzelek, als diese das Kind in einen Ditzinger Kindergarten begleitete. Sie rissen die Frau zu Boden, das Mädchen an sich und versprühten so viel Pfeffer, dass die Begleiterin tagelang unter Sehstörungen litt. Das Kind war weg. Nach der Mutter wurde danach mit internationalem Haftbefehl gesucht, im März kehrte sie nach Deutschland zurück und stellte sich. Warum, ist unklar. Die Staatsanwältin deutet an, dass ihr in Polen womöglich die Auslieferung drohte.

Die Mutter streitet jede Beteiligung an der Entführung ab

In Handschellen wird die Frau am Mittwoch in den Saal geführt, die Sicherheitsvorkehrungen beim Prozess sind streng: Auch der Vater und der Onkel der Angeklagten sind als Zeugen geladen, und ihre Wut ist greifbar. „Der Karzelek ist kein Heiliger“, schreit einer auf polnisch in den Raum.

Die Verteidigungsstrategie der Mutter: sie streitet alles ab. Sie sei am 2. Oktober nicht in Ditzingen, sondern in Polen gewesen, und dort habe ihr plötzlich jemand ihre Tochter überreicht. Wer? „Kann ich nicht sagen.“ Der Vater und der Onkel liefern ein Alibi für den Tag der Entführung, aber die Angaben sind widersprüchlich und für die Richterin „alles andere als überzeugend“. Die Lebensgefährtin von Karzelek identifiziert die Angeklagte als Täterin. Die Mutter wiederum beteuert, sie wisse derzeit nicht, wo die Tochter sei – um in ihrem Schlusswort unter Tränen zu erklären: „Sie ist glücklich. Ich will doch nur, dass sie endlich ein normales Leben leben kann.“

Das Mädchen wird vermutlich von der Großmutter in Polen versteckt

Die härtesten Worte findet daraufhin die Vertreterin der Nebenklage: Ein Kind mit Gewalt an sich zu reißen und gegen seien Willen in eine andere Welt zu versetzen – „das ist so extrem, da bleibt man fassungslos zurück“. Der Verteidiger hält dagegen, seine Mandantin werde zu Unrecht von allen „als böses Subjekt“ dargestellt. „Es ist ihr Kind. Ich weiß nicht, wie Sie, ich, andere sich da verhalten würden.“

Drei Jahre Gefängnis fordert die Staatsanwältin, ein Jahr auf Bewährung der Verteidiger. Das Urteil lautet: zwei Jahre und zehn Monate. Das Mädchen wird nun nicht nur ohne Vater, sondern auch ohne Mutter aufwachsen. Irgendwo in Polen, vermutlich bei der Großmutter, denn die ist ebenfalls verschwunden.

Thomas Karzelek sagt nach dem Urteil, er sei erleichtert. „Meine größte Sorge war, dass sie auf freiem Fuß hier raus geht.“ Er gehe davon aus, dass er die polnischen Behörden jetzt zu einer engeren Mitarbeit bei der Suche nach seiner Tochter bewegen könne. Außerdem hoffe er, dass sich bei der polnischen Familie „die Einsicht durchsetzt, dass es so nicht weitergeht“. Tatsächlich hat die Angeklagte vor Gericht angedeutet, dass sie eine einvernehmliche Lösung anstrebe – ohne zu sagen, wie diese aussehen könnte. Noch regiert der Hass. Als Thomas Karzelek das Gerichtsgebäude verlässt, wird er zu seinem Schutz von bewaffneten Beamten begleitet.