Tonlos sagt Ines M. aus, unter Tränen: „Ich habe mir alles schöngeredet.“ So weit ging die Empathie, dass ihr Melek einst „wie eine kleine Schwester“ vorkam mit dem hilflosen Augenaufschlag, den schwarzen Locken und den gepflegten Nägeln. War es ihr Erscheinungsbild, das sogar die Profis vom Kinderschutz darüber hinwegtäuschte, dass ihre Erklärungen nie recht zu den Verletzungen der Tochter passten? Dabei gilt genau das als Indiz für Kindesmisshandlung, die in Deutschland alltäglich ist. Drei Kinder pro Woche sterben durch Gewalt – meist durch die eigene Familie.

 

Die Polizisten jedenfalls, die der Notarzt kurz vor Weihnachten 2013 in die Wohnung der Großsiedlung Mümmelmannsberg in Hamburgs sozialer Randlage ruft, erkennen an den notdürftig überschminkten Hämatomen auf dem kleinem Körper gleich, was es mit dem Blut auf Kissen, Matratzen und Heizkörpern auf sich hat. Im Kinderzimmer liegt neben einer verglühten Kippe ein Abdeckstift. In einem Strampelanzug finden die Beamten ein Kühlpad. Als die Helfer Reanimationsversuche aufgeben, ruft Melek Y. noch einmal eine ihrer Ausreden ab, wie sie zuvor gegenüber der Pflegemutter und dem Jugendamt stets fruchteten: Das Kind sei gestürzt.

Die Obduktionsbilder, die Klaus Püschel im Prozess an die Wand wirft, sind schwer zu ertragen; Zuschauer verlassen den Saal. Allein 83 äußere Verletzungen fand der Rechtsmediziner am Leichnam. Frische violette und

Die Eltern der getöteten Yagmur (links und rechts vorne) müssen sich in Hamburg vor Gericht verantworten. Foto: dpa
ältere gelb-grüne Hämatome, unzählige Narben von auf der Haut ausgedrückten Zigaretten. Dazu Würgemale, einen Ellbogenbruch und Verletzungen durch Schläge und Tritte gegen den Bauch, in dem sich ein Viertelliter Blut befand, ausgetreten durch innere Wunden, etwa einen Leberriss, der laut Püschel neben Gewalt gegen den Kopf den Tod der Dreijährigen mitverursachte. Das Kind habe zweifellos über einen langen Zeitraum „sehr, sehr gelitten“, sagt der 62-Jährige: „So etwas habe ich noch nicht gesehen.“

Die Brutaltität ist ganz besonders erschreckend

Kinderärztin rät dazu, „den Ball flach zu halten“

Da ist die Kinderärztin, die trotz auffälliger blauer Flecken rät, „den Ball flach zu halten“. Die Pflegekindbetreuerin, die die Eltern beschwört, „sich zusammenzureißen“. Die Pädagogin, die Yagmur in der Klinik, wo sie mit rasiertem Schädel und einer Riesennarbe am Kopf auf dem Bett sitzt, besucht und der „nichts auffällt“. Wie viele andere scheint auch sie sich nie die nächstliegenden Fragen gestellt zu haben: Was ist passiert? Wer war das? Vor allem aber gibt es da eine Justiz, die Erledigungsdienst macht, und Kinderschutzbehörden, die mutmaßlich nicht einmal ihren Aufgaben nachkamen. Gegen mehrere Jugendamtsangestellte und eine Erzieherin ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Melek und Hüseyin Y. sind diejenigen, die Yagmurs rosarote Welt von Anfang an durch blaue Flecken trüben. Ines M. bekommt den sieben Monate alten Säugling zurück mit blau geschlagenem Kopf. Sie sei im Schwimmbad ausgerutscht, das Baby gegen die Wand geknallt, sagt Melek. Massive Vorfälle meldet Ines stets dem Amt. Selbst Ines’ Mutter, die in Italien lebt und selten da ist, ahnt etwas. „Sie warnte, ich sei zu gutgläubig“, sagt die blonde Designerin, die im Prozess erstmals nach Yagmurs Tod auf die Frau trifft, die sie bis dahin mit „Alles gut“-SMS beruhigte.

Der Notarzt sieht überschminkte Hämatome

Tonlos sagt Ines M. aus, unter Tränen: „Ich habe mir alles schöngeredet.“ So weit ging die Empathie, dass ihr Melek einst „wie eine kleine Schwester“ vorkam mit dem hilflosen Augenaufschlag, den schwarzen Locken und den gepflegten Nägeln. War es ihr Erscheinungsbild, das sogar die Profis vom Kinderschutz darüber hinwegtäuschte, dass ihre Erklärungen nie recht zu den Verletzungen der Tochter passten? Dabei gilt genau das als Indiz für Kindesmisshandlung, die in Deutschland alltäglich ist. Drei Kinder pro Woche sterben durch Gewalt – meist durch die eigene Familie.

Die Polizisten jedenfalls, die der Notarzt kurz vor Weihnachten 2013 in die Wohnung der Großsiedlung Mümmelmannsberg in Hamburgs sozialer Randlage ruft, erkennen an den notdürftig überschminkten Hämatomen auf dem kleinem Körper gleich, was es mit dem Blut auf Kissen, Matratzen und Heizkörpern auf sich hat. Im Kinderzimmer liegt neben einer verglühten Kippe ein Abdeckstift. In einem Strampelanzug finden die Beamten ein Kühlpad. Als die Helfer Reanimationsversuche aufgeben, ruft Melek Y. noch einmal eine ihrer Ausreden ab, wie sie zuvor gegenüber der Pflegemutter und dem Jugendamt stets fruchteten: Das Kind sei gestürzt.

Die Obduktionsbilder, die Klaus Püschel im Prozess an die Wand wirft, sind schwer zu ertragen; Zuschauer verlassen den Saal. Allein 83 äußere Verletzungen fand der Rechtsmediziner am Leichnam. Frische violette und

Die Eltern der getöteten Yagmur (links und rechts vorne) müssen sich in Hamburg vor Gericht verantworten. Foto: dpa
ältere gelb-grüne Hämatome, unzählige Narben von auf der Haut ausgedrückten Zigaretten. Dazu Würgemale, einen Ellbogenbruch und Verletzungen durch Schläge und Tritte gegen den Bauch, in dem sich ein Viertelliter Blut befand, ausgetreten durch innere Wunden, etwa einen Leberriss, der laut Püschel neben Gewalt gegen den Kopf den Tod der Dreijährigen mitverursachte. Das Kind habe zweifellos über einen langen Zeitraum „sehr, sehr gelitten“, sagt der 62-Jährige: „So etwas habe ich noch nicht gesehen.“

Die Brutaltität ist ganz besonders erschreckend

Außergewöhnlich ist aber nicht nur die Brutalität, sondern auch der Umstand, dass Püschel das Kind auf dem Obduktionstisch nicht zum ersten Mal zu Gesicht bekommt. Fast ein Jahr zuvor hatte er Yagmur wegen einer lebensgefährlichen Kopfverletzung untersucht und war zu dem Schluss gekommen, das Kleinkind sei „hochgradig gefährdet“. Püschel erstattete am 1. Februar 2013 Anzeige gegen unbekannt wegen Kindesmisshandlung. Elfeinhalb Monate haben Justiz und Behörden Zeit gehabt, Yagmurs Leben zu schützen. Was haben sie stattdessen getan – und was unterlassen?

Die 44-seitige Rekonstruktion des Scheiterns, die von der Jugendhilfeinspektion erstellt wurde, liest sich wie das Drehbuch zum völlig falschen Film. Die Fehlerdiagnose: kein Nachfragen, wenn man etwas nicht wusste. Kein Hinterfragen eigener Entscheidungen, stattdessen eine Präferenz für „die einfache Lösung“. Ein Nachlassen in der Dokumentation des Falles, was bei vielfach wechselnden Zuständigkeiten einen fatalen Stille-Post-Effekt hatte. Dazu mutmaßlich mangelnde Aktenkenntnis, Kommunikationslöcher zwischen Justiz und Jugendamt sowie eine unheimliche Leichtgläubigkeit.

Ende 2012, Melek und Hüseyin Y. haben geheiratet, eine Wohnung und Arbeit. Sie wollen Yagmur zurück. Die Bindung zur Pflegemutter wird von den Behörden gelobt, aber auch problematisiert: Wenn das Kind länger bei ihr bleibt, werde es den Eltern entfremdet, bei denen es sich aus Sicht der Sozialpädagogischen Familienhilfe „recht wohl fühlt“. Dass Ines M. erneut betont, Yagmur habe Angst, abgeholt zu werden, ist nur ein Aktenvermerk. Die Rückführung im Januar 2013 ist beschlossene Sache. Als Vorgeschmack bleibt Yagmur über Weihnachten erstmals vier Tage am Stück bei ihren Eltern. Als Ines M. das Kind danach in Empfang nimmt, ist es apathisch und riecht nach Erbrochenem. Sie bringt Yagmur in die Klinik, wo eine Bauchspeicheldrüsenentzündung diagnostiziert wird – eine bei Kindern seltene Erkrankung, die viral ausgelöst wird oder durch äußere Verletzung. Yagmur erholt sich und darf nach Hause zu Ines M. Anfang Januar ist sie erneut mehrere Tage bei den Eltern und hat dasselbe Krankheitsbild. Die Ärzte finden keinen Virus. Am 8. Januar erfährt Ines M. vom Allgemeinen Sozialen Dienst (ASD) des Bezirksamts Eimsbüttel, dass Yagmur gleich nach ihrer Entlassung endgültig zu den Eltern zurückkehren soll.

Rechtsmediziner Püschel erstattet Anzeige

Keine zwei Wochen wohnt Yagmur in Mümmelmannsberg , als die Eltern sie mit einer schweren Kopfverletzung ins Krankenhaus bringen. Notoperation. Sie sei im Bad gestürzt, sagen Melek und Hüseyin Y. Rechtsmediziner Püschel weiß es besser. Er erstattet die Anzeige – und bewertet auch die vorherige Entzündung im Bauch als Folge stumpfer Gewalt. Yagmur kommt ins Kinderschutzhaus. Melek Y. heult Ines M. vor, sie werde wie eine Schwerverbrecherin behandelt. Ines M. hat schlaflose Nächte. Der Gedanke, dass ihre Yaya, wie sie das Mädchen liebevoll nennt, in einer fremden Umgebung untergebracht ist, belastet sie. Obwohl ihr die Familienanwältin dringend davon abrät, schreibt sie im Mai eine Mail: Vielleicht komme die schwere Kopfverletzung davon, dass sie Yaya vier Monate zuvor einmal stark im Maxi-Cosi geschaukelt hatte. Man hätte die Selbstbezichtigung als absurd erkennen können, doch sie setzt eine Kettenreaktion in Gang: Die Jugendamtsmitarbeiterin sagt der Familienrichterin, dass die Pflegemutter für die Misshandlung verantwortlich sei. Der Anwalt der Eltern erklärt, die Unschuld seiner Mandanten sei erwiesen. Die Richterin glaubt der mündlich überlieferten Fehlinterpretation und entscheidet, dass die Eltern das Sorgerecht behalten. Der Beschluss wird sofort umgesetzt, obwohl die Staatsanwältin noch ermittelt.

Es bleiben nur zwei Hauptverdächtige: die leiblichen Eltern

Diese wiederum fragt nicht bei Püschel nach, wann exakt die Verletzungen entstanden sind. Sie ordnet keine Recherchen im Familienumfeld an und wertet den Umstand, dass Melek Y. ihrer Vorladung nicht folgt, so, dass diese vom Aussageverweigerungsrecht Gebrauch mache. Befragt wird Melek Y. nie. Nach Monaten schreibt die Staatsanwältin den Rechtsmediziner an, wie wahrscheinlich es sei, dass die Misshandlung von den Vorfällen bei der Pflegemutter komme. Ausgeschlossen, antwortet Püschels Institut prompt. Damit bleiben zwei Hauptverdächtige: die Eltern. Wie reagiert die Staatsanwältin? Sie stellt die Ermittlungen ein – sechs Wochen vor Yagmurs Tod. Der Täter sei nicht zu ermitteln gewesen, rechtfertigt sie sich im Ausschuss. Sie sei nur für die Strafverfolgung zuständig, um das Kindeswohl kümmere sich das Jugendamt.

Immerhin hatten die Eltern das Sorgerecht nur unter der Auflage behalten, dass Yagmur sechs Stunden täglich eine Kita besucht. Der Kontrollauftrag kommt aber nur lapidar an: Die Erzieher sollen „ein Auge auf das Kind haben“. Tatsächlich besucht Yaya die Kita nur zwei Wochen. Erst fehlt sie unentschuldigt, dann meldet Melek sie krank ohne Attest. Kontaktaufnahmen scheitern. Wo bisher nie die Alarmglocken schrillten, schaltet sich doch ein Warnlämpchen ein. Die Polizei fährt regelmäßig bei der Familie vorbei und meldet sich sofort, als in der Wohnung Licht brennt – an einem Samstag im September um 22 Uhr – bei der Kinder- und Jugendnothilfe. Als

Das Grab der dreijährigen Yagmur auf dem Öjendorfer Friedhof in Hamburg. Foto: dpa
diese eintrifft, liegt Yagmur im Bett der Eltern, wacht nur kurz auf und dreht sich weg. Die Ersthelfer melden, das Kind habe einen unauffälligen Eindruck gemacht – ohne es auch nur näher angesehen zu haben.

Yagmur hat noch drei Monate zu leben. Hausbesuche verhindert Melek Y. unter Vorwänden. Nur einmal, im November, erscheint sie mit Yaya an der Hand im Jugendamt Billstedt. Sie hat ein Anliegen. Bis der Schlauch entfernt ist, den ihre Tochter seit der OP trägt, soll sie nicht mehr in die Kita. Melek Y. möchte „mehr Zeit mit ihr haben“. Sie hat leichtes Spiel: Das Jugendamt gibt sein Okay. Das Kündigungsformular an die Kita ist Yagmurs Todesurteil.

Die Akte schließt mit dem Vorhaben des Sozialen Dienstes Billstedt, im Januar 2014 erneut mit der Familie Y. Kontakt aufzunehmen. Yagmur stirbt am 18. Dezember 2013. Wenn es stimmt, was Melek Y. in der letzten SMS an ihren Mann schrieb, hat es die Dreijährige noch einmal geschafft, aus dem Bett aufzustehen. Sie brauchte dringend Hilfe. Aber da war nur ihre Mutter.

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