Im Extremfall kann ein Urteil bei Gewalt gegen Kinder unbefriedigend sein, sagt Richter Matthias Merz. Oft nutzten die Eltern das Schweigerecht. Der Rechtsstaat müsse aber auch solche Entscheidungen hinnehmen, dafür gebe es gute Grünnde.

Politik/ Baden-Württemberg: Christian Gottschalk (cgo)

Stuttgart - Die Liste möglicher Tatbestände ist bei Kindesmisshandlung lang, die der Variationen noch länger.

 
Herr Merz, ein Kind ist mit seinen Eltern alleine zu Hause, dann ist es tot und weist Spuren von Misshandlungen auf. Da müssen die Eltern doch bestraft werden, oder?
Der erste Impuls sagt einem, dass es so sein sollte. Aber wir haben ein rechtsstaatliches Verfahren und müssen jedem seine individuelle Schuld nachweisen. Die Strafjustiz muss also zweifelsfrei klären, wer was gemacht oder zu verantworten hat.
Was, wenn die Beteiligten schweigen?
In derartigen Konstellationen gibt es oft nur objektive Befunde, zum Beispiel das rechtsmedizinische Gutachten. In die Familie hineinzusehen kann für ein Gericht sehr schwierig sein. Kein Angeklagter muss sich selbst und kein Zeuge seine nächsten Angehörigen belasten, es gibt das Recht zu schweigen. Und das kann dazu führen, dass die Strafjustiz keinen Einblick in die innerfamiliären Abläufe des Geschehens erhält.
Das bedeutet dann, dass keiner bestraft wird ?
Im Extremfall ist das theoretisch denkbar. Das ist unbefriedigend, aber der Rechtsstaat muss das hinnehmen. Wenn man sich vorstellt, selbst mit Vorwürfen überzogen zu werden, dann vertraut man auf diesen Rechtsstaat und darauf, dass nur der verurteilt wird, dessen Schuld zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen ist. Das gilt natürlich für alle Straftaten, nicht nur bei Kindesmisshandlung.
Wenn Kinder durch Misshandlungen getötet werden, reicht die Breite der Urteile von Freispruch bis lebenslang. Wie geht so etwas?
Schon die möglichen Tatbestände sind sehr unterschiedlich. Mord, Totschlag, Körperverletzung mit Todesfolge, Misshandlung von Schutzbefohlenen, gefährliche Körperverletzung, schwere Körperverletzung, fahrlässige Tötung – um nur die wichtigsten zu nennen. Jetzt gibt es Variationen. All diese Delikte kann jemand allein verübt haben oder als Mittäter oder in der Form der Beihilfe. Und bei jedem Delikt besteht die Möglichkeit, dieses durch aktives Tun oder Unterlassen verwirklicht zu haben. Aus dieser Vielfalt sieht man schon, dass sehr unterschiedliche Strafrahmen in Betracht kommen, je nachdem, welche Lebenssachverhalte vom Gericht festgestellt werden.
Teilen Sie den Vorwurf, die Strafjustiz nutze den ihr zur Verfügung stehenden Strafrahmen nicht zur Genüge aus?
Nein, das sehe ich nicht so. Wenn es solche Rahmen gibt, dann kann es nicht sein, dass bei jedem Fall am oberen Ende des Rahmens geurteilt wird. Es geht ja gerade darum herauszufinden, was schuldangemessen ist. In dem einen Fall sitzt da ein Mehrfachtäter auf der Anklagebank, im anderen ein Mensch, der immer versucht hat, alles richtig zu machen, und nur einmal versagt hat, da aber grob. Das muss alles berücksichtigt werden. Und wenn sich ein Strafgericht doch einmal schwer in der Strafhöhe vergreift, dann hat die Staatsanwaltschaft die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen.
In der Regel urteilen in Fällen dieser Art drei Berufs- und zwei Laienrichter. Aus dem Nähkästchen geplaudert: Sind die immer gleicher Meinung?
Wir machen die Erfahrung, dass die Sicht der Schöffen in diesen Verfahren eine wertvolle Bereicherung sein kann. Oft stellen auch sie fest, dass es sehr viel schwieriger ist, einem Angeklagten gerecht zu werden, wenn man sich intensiv mit dem Fall beschäftigt. Viel komplizierter, als wenn man nur ein paar Stichworte in der Presse liest.

Zur Person:

Matthias Merz (47) kennt das Strafrecht und dessen Tücken aus verschiedenen Perspektiven. Er war Staatsanwalt und Richter beim Amts- wie beim Landgericht. Derzeit ist Merz im 4. Senat des Stuttgarter Oberlandesgerichts hauptsächlich für Rechtsmittel in Strafsachen zuständig.