Wie das Statistische Bundesamt meldet, sind im vergangen Jahr wesentlich mehr Verfahren zur Prüfung des Kindeswohls eingeleitet worden. In Baden-Württemberg waren es fast acht Prozent mehr Fälle.

Stuttgart - Schlagzeilen des Sommers: Ein 27-jähriger ist in Hamburg angeklagt, weil er ein Kleinkind, seinen 13 Monate alten Stiefsohn Tayler, zu Tode geschüttelt haben soll. In Augsburg verurteilt ein Gericht eine 29-jährige Mutter zu sieben Jahren Haft, weil sie ihr acht Monate altes Baby fast verhungern ließ. Es wog am Ende nur noch 3950 Gramm. Das Grauen ist unfassbar – immer wieder kommt es zu Fällen tödlich endender Kindesmisshandlung. Aber allem Anschein nach werden die Jugendämter rascher alarmiert als je zuvor. Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden berichtete am Dienstag, das im Jahr 2015 rund 129 000 Verfahren zur Einschätzung der Gefährdung des Kindeswohls in den Jugendämtern eingegangen sind, ein Anstieg um 4,2 Prozent im Vorjahresvergleich, der höchste Wert seit der Einführung der Statistik 2012.

 

Alarmierend: in bundesweit 20 800 Fällen stellten die Ämter eine akute Kindeswohlgefährdung fest – das ist ein Anstieg um fast zwölf Prozent. Eine latente Gefahr ist in 24 200 Fällen ermittelt worden, auch da ein Plus um fast acht Prozent. Beim Gros der Fälle aber stiegen die Ämter nur mit mehr „Hilfe und Unterstützung“ ein oder sie befanden, es sei eigentlich alles in Ordnung.

Aber woran liegt der Anstieg der Gesamtzahlen? Sind die Familien überfordert? Drücken neu zugewanderte Migrantenfamilien die Statistik ins Negative?

Die Aufmerksamkeit der Gesellschaft hat zugenommen

Die Experten warnen vor voreiligen Schlüssen. „Die Sensibilität der mit Kindern und Jugendlichen betrauten Institutionen, aber auch der Bevölkierung hat zugenommen, das Dunkelfeld dürfte kleiner geworden sein“, heißt es im Sozialministerium in Stuttgart. Aber man werde die Entwicklung „sehr genau“ beobachten. Tatsächlich sind auch in Baden-Württemberg die Zahlen der Anträge gestiegen, es gab 10 963 Verfahren (8,2 Prozent mehr). Schlimmer noch: in 1762 Fällen gab es eine akute Gefährdung– zwei Prozent mehr als im Vorjahr. „Wir können aus den Zahlen nicht schließen, dass die Familien zunehmend schlechter mit ihren Kindern umgehen würden“, sagt Heinrich Korn vom Stuttgarter Jugendamt, das ebenfalls steigende Fallzahlen beobachtet.

Vielmehr werde dem Kinderschutz „immer mehr Aufmerksamkeit“ geschenkt, sagt Heinrich Korn – auch durch die Institutionen. Am häufigsten weisen bundesweit Polizei , Gerichte und Staatsanwälte die Jugendämter auf Verdachtsmomente hin, aber auch Bekannte und Nachbarn von Erziehenden, sowie Schulen und Kindergärten sind wichtige Hinweisgeber. Zehn Prozent der Tipps, man möge mal nach dem Rechten schauen, erfolgen übrigens anonym. Die große Mehrheit der betroffenen Kinder leidet an Vernachlässigung, gefolgt von psychischer Misshandlung (27 Prozent), körperlicher Qual (23 Prozent) oder sexueller Gewalt (vier Prozent). Mädchen und Jungen sind gleich stark betroffen.