Der Regisseur Edgar Reitz kehrt noch einmal zu seiner „Heimat“-Saga zurück. Dieses Mal erzählt er aus dem harten 19.Jahrhundert, als Not, Armut und die Willkür der Obrigkeit die Schabbacher niederdrücken.

Stuttgart - Die Mitte der Welt befindet sich in einer Schmiede in Schabbach, sie ist der Platz an jenem Stützbalken in der Küche, an den erschöpfte Heimkehrer den Kopf lehnen und beruhigt die Augen schließen können, weil sie ja nun wissen: Sie sind zu Hause. Um diese große Szene herum ließ Edgar Reitz seine in den frühen achtziger Jahren begonnene Dorfchronik „Heimat“ kreisen, in ihr schießt ein Gefühl zusammen, das der Regisseur in seiner zur Trilogie angewachsenen Fernsehserie wieder und wieder heraufbeschwört. Dem von den Nazis missbrauchten Wort „Heimat“ hat Reitz dabei wieder seine alte Würde zurückgegeben, und es ist ihm dabei sogar gelungen, den intellektuellen Film mit dem populären zu versöhnen.

 

Auch jetzt, in dem fürs Kino gedrehten Film „Die andere Heimat“, lehnt der nach seiner Militärzeit zurückgekehrte Gustav (Maximilian Scheidt) den Kopf an diesen Stützbalken. Überhaupt nimmt Reitz immer wieder Motive aus seiner „Heimat“-Trilogie auf, und mit der Schauspielerin Marita Breuer, damals die Zentralfigur der Serie und auch jetzt die Frau des Schmieds, setzt er auf sozusagen physiognomische Kontinuität. Der Sohn Gustav ist wieder zu Hause, aber das Dorf macht es ihm schwer, auch wieder heimisch zu werden. Reitz hat seine Schabbach-Chronik nämlich nicht fortgeführt, er ist zurückgesprungen in das Jahr 1842, in dem die Not herrscht und das Elend droht und ein Dörfler konstatiert: „Die Hunsrück Erd ist leer!“

Der Armut davonlaufen

Schon die Fernsehtrilogie hat nicht nur vom guten Leben in Schabbach erzählt, sondern von Menschen, denen es zu eng wurde. Im zweiten Teil etwa spürt das Herrmännsche, ein Alter Ego des Regisseurs, im Dorf vor allem Spießigkeit und Bigotterie – und in sich eine Sehnsucht, die ihn fliehen lässt. Nun freilich tragen sich fast alle Schabbacher mit Auswanderungsgedanken oder ziehen schon los in Wagenkolonnen (in beeindruckenden Totalen des Kameramanns Gernot Roll), um sich nach Brasilien einschiffen zu lassen.

Einer aber will nicht nur vor der Armut davonlaufen, sondern auf dem neuen Kontinent ein ganz anderes Leben finden. Er heißt Jakob (Jan Dieter Schneider), ist der jüngere Bruder von Gustav und fliegt schon in der ersten Sequenz aus dem Haus und seinem Buch hinterher, mit dem ihn der strenge Vater erwischt hat.

Ein Taugenichts wird gelockt

Dieser junge Mann, der sich in den Wald zurückzieht, um brasilianische Indianersprachen zu lernen, ist ein Außenseiter und Träumer. Gleich am Anfang umgibt ihn ein sirenenhafter Ton, er wird also gerufen, er wird gelockt! Selten ist Jakob als Teil der Gemeinschaft zu sehen, steht meist am Rande da oder allein.

Ein gut Stück vom Eichendorff’schen Taugenichts steckt in ihm, aber ganz entkommen kann er Schabbach nicht. In seinem Abenteuer- und Freiheitsdrang wird er gebremst durch die materiellen Verhältnisse. Und dann beobachtet er das Jettchen (Antonia Bill), wie es sich mit einer Freundin bukolisch-nackig im Gras wälzt. Wenn es allerdings darauf ankäme, drückt er dem erwartungsvollen Mädchen keinen Kuss auf die Lippen, sondern übersetzt ihr Wörter ins Indianische. Tanzen kann Jakob auch nicht, so dass sich sein robuster Bruder beim Dorffest das Jettchen greift und er selber vor lauter Liebeskummer einem „Liberté“ fordernden Freund in die Festungshaft folgt.

Die harten Jahre

Reitz hat die alten Zeiten sorgfältig nachgestellt, sein Schabbach ist kein bespieltes Heimatmuseum, es wurde einem realen Dorf als Fachwerkgebilde übergestülpt, wirkt aber nie pittoresk. Viele der Darsteller sind Laien, sie spielen anders als professionelle Schauspieler, aber ihr daunenhaft-weicher Hunsrück-Dialekt, ihre Bewegungen und ihre Gesichter wirken authentisch, was hier heißt: Sie bleiben uns ein bisschen fremd, so wie uns diese Zeit ein bisschen fremd bleibt.

Denn dieser Film biedert sich nicht an. Die harten Jahre, in denen die Obrigkeit willkürlich regiert, Missernten die Existenz gefährden und Seuchen vielfachen Tod bringen, sind nicht die unseren. Der Regisseur schildert sie in Schwarz-Weiß, das er allerdings mit umso kostbarer wirkenden Farbsprengseln versieht: da glüht eine Münze, da leuchtet ein Stein, da finden Blüten zu schönem Blau.

Vollmondige Romantik und Realismus

Reitz geht sowieso über eine politisch-soziologische Geschichtsrekonstruktion hinaus. Wenn Jakob auf einem Floß rebellischer Burschenschaftler mitfährt, sympathisiert er zwar mit deren Sache, wird von der Historie respektive der schießenden Soldateska aber buchstäblich nur gestreift. Auch den Realismus lässt der Regisseur links liegen, wenn ihm vollmondige Romantik wichtiger ist, er also überhöht und Gefühle poetisieren will.

Trotz seiner Länge ist „Die andere Heimat – Chronik einer Sehnsucht“ weniger episch denn lyrisch. Aber vier Stunden sind natürlich eine Zumutung, zumal Reitz mit großer Gelassenheit erzählt. Doch wie sagt ein Hunsrücker? „Alles hat sei eigene Zeit.“ Das gilt auch für diesen Film, auf den man sich einlassen muss, der einem etwas abverlangt, über den man sich hie und da auch ärgern kann. Und der doch das ist, was man nicht so oft über das deutsche Kino sagen kann: ein Ereignis.