Der Ministerpräsident Winfried Kretschmann ist auf dem Kirchentag keineswegs aus einem Pflichtgefühl heraus unterwegs. Der Katholik mag die Protestanten – und auch zwischen der Bundeskanzlerin und ihm menschelt es.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Auf dem Weg zu seinen Parteifreunden in Halle 4 kommt die Erkenntnis über Winfried Kretschmann. „Die CDU“, sagt der grüne Ministerpräsident plötzlich, „kann dem Herrgott jeden Tag danken, dass er ihr Angela Merkel geschickt hat.“ Nichts, aber auch gar nichts sei ihm nach dem Digital-und-klug-Vortrag der Kollegin aus Berlin eingefallen, das er anders formuliert hätte. Auch er nennt die Erfindung des Internets eine Revolution, teilt zugleich ihre Einschätzung, dass die Wertmaßstäbe in der digitalen und in der realen Welt dieselben sein müssten. Und big data? „Brauchen wir natürlich in der modernen Gesellschaft.“ Seine Grünen hätten das lange abgelehnt, „weil wir glaubten, dass dann alles überwacht wird“. Das zu verhindern, sei zwar weiterhin die Aufgabe der Politik, „aber wir dürfen auch nicht verkennen, dass uns diese Daten in vielen Bereichen helfen“. Er sei beispielsweise ein Freund der satellitengestützten Maut. Mit dieser Technik könne punktgenau erfasst werden, wer wohin fährt – und entsprechend abgerechnet werden. Die Einnahmen könnten dazu beitragen, die Energiewende zu bezahlen. Die frühere Umweltministerin Merkel hätte es nicht besser formulieren können.

 

Tatsächlich ist die Schleyerhalle am Vormittag des Kirchentagsfreitags fest in schwarz-grüner Hand. Rot leuchten nur die Schals mit der Losung, die Merkel, Kretschmann und Oberbürgermeister Fritz Kuhn tragen, als sie sich zum Spitzentreffen aus Bund, Land und Stadt einfinden. Die Harmonie scheint nicht nur dem Kirchentag geschuldet zu sein, sondern persönlicher Wertschätzung zu entspringen. „Wir haben vieles gemeinsam“, sagt Winfried Kretschmann, „Angela Merkel ist die grünste Konservativste, die ich kenne.“ Und er der konservativste Grüne? Da schweigt der Ministerpräsident lieber. Eben ist er am Stand der baden-württembergischen Grünen angekommen – ein bisschen Kuscheln mit den eigenen Freunden mag ja auch angebracht sein beim letzten Kirchentag vor der Landtagswahl.

Kretschmann bezeichnet Kommunismus als Irrtum

Dabei bleibt kaum Zeit für Zwischenmenschliches angesichts eines Kalenders, der allenfalls fünf Minuten Aufenthalt vorsieht an den Ständen der Bruderhausdiakonie oder des Bundesverbands der Deutschen Tafeln. Bei nahezu jedem Schritt wird Kretschmann mit einem neuen Thema konfrontiert, und einmal auch mit seiner Vergangenheit. Warum er einst ein Kommunist gewesen sei, fragt ein Journalist. Dieser Irrtum beschäftige ihn sein Leben lang, antwortet der Ministerpräsident und sagt, dass er aus eigener Erfahrung wisse, wie leicht man an der Ungerechtigkeit der Welt verzweifeln und darob zum Fanatiker werden kann: „Deswegen müssen wir immer nach Auswegen suchen.“

Gerade in solchen Momenten wird offenbar, dass der bekennende Katholik Kretschmann den evangelischen Kirchentag keineswegs als lästige Pflichtveranstaltung betrachtet, sondern als Diskurs. Vor allem die Vorbereitung zur Bibelarbeit, die er am Freitagmorgen gehalten hat, sei ihm eine Kür gewesen, sagt der Philosophie-Fan. An ihr hat er sogar im Flieger gearbeitet, als er mit einer Delegation im Silicon Valley unterwegs war. Gedanken über eine Passage des Alten Testaments, nachdem man sich im digitalen Entwicklungslabor der Zukunft zeigen ließ, wie die Welt morgen funktioniert? Kretschmann mag diesen Spannungsbogen, das lässt ihn die Mühen der Ebene ertragen.