Die Nachfrage nach dem bundesweit einmaligen Modellprojekt in Baden-Württemberg hat sich verdoppelt: Die praxisorientierte Erzieherausbildung Pia bringt zusätzliche und auch mehr männliche Auszubildende in den Mangelberuf Erzieher.

Esslingen - Die Kinder kriegen sich gar nicht mehr ein vor Lachen. „Sandra erzählt immer so lustige Geschichten“, kichern die Mädchen noch, als sie fix und fertig angezogen darauf warten, von ihren Eltern in die Mittagspause abgeholt zu werden. Sie zupfen ihre neue Erzieherin am Ärmel, schmiegen sich vor der Kita Regenbogen im Esslinger Stadtteil Berkheim an ihre Beine und erinnern sich gemeinsam an die Geschichte von den „echten Kerlen“, die Mädchen langweilig finden und glauben, dass die sich ins Nachthemd machen.

 

Sandra erzählt aber nicht nur lustige Geschichten, sie will nichts weniger als ihren Teil dazu beitragen, „dass die Kinder ihr Leben mit großem Selbstbewusstsein und mit großer Freude meistern“. Sie will die Kleinen in die Lage versetzen, an ihren Schwächen zu arbeiten, in der Gruppe Rücksicht zu üben und nicht zuletzt, dass sie „sich angenommen fühlen“. Resilienzförderung ist das wissenschaftliche Stichwort für Sandra Retz. Der Anspruch ist hoch für eine Auszubildende im ersten Lehrjahr. Aber Sandra Retz bringt auch schon einiges mit. Ebenso wie Torsten Moerk. Der 39-Jährige ist ganz nach dem Geschmack der Landesregierung. Moerk und Retz sind zwei von von rund 1800 Teilnehmern an der praxisintegrierten Erzieherausbildung (Pia), die das Land Baden-Württemberg im Herbst 2012 eingeführt hat. Die Ausbildung dauert drei Jahre, anders als in der klassischen schulischen Erzieherausbildung gibt es über die gesamte Ausbildung hinweg Gehalt. Die Teilnehmer haben einen festen Ausbildungsplatz an einer Kita. Pia wendet sich an Menschen mit abgeschlossener Berufsausbildung. Das Land möchte so den Mangelberuf Erzieherin für einen breiteren Interessentenkreis öffnen. Man hofft auf mehr Männer, auch auf ältere Bewerber. Marion von Wartenberg, die Staatssekretärin im Kultusministerium, zieht eine positive Zwischenbilanz. Es sei gelungen, das Berufsbild attraktiver zu machen. Im ersten Jahr starteten 579 Azubis in dem bundesweit einzigartigen Modell. Im Herbst 2013 waren es schon 1223 Anfänger. „In diesem Ausbildungsmodell liegt ein großes Potenzial für Kindertageseinrichtungen“, freut sich die Staatssekretärin. Besonders erfreulich sei, dass der Anteil der Männer von 87 auf jetzt 190 angestiegen sei.

Vergütung in der Ausbildungsphase lockt auch Männer

Einer von ihnen ist Torsten Moerk. An seinem Arbeitsplatz im Kindergarten Mühlbergle in Magstadt (Kreis Böblingen) ist er bei Mädchen wie Buben ein gefragter Mann. Doch ja, beim Fußballspielen sei er gerne gesehen, berichtet Moerk bescheiden. Aber auch wenn er das Obst und Gemüse putzt, wird er schnell umlagert. Ständig von Horden munterer Steppkes umgeben zu sein, ist kein Kinderspiel. Aber mit Stress kennt sich Moerk aus. Er war mehr als zehn Jahre lang Mediengestalter Bild und Ton und hat beim Fernsehen Zeitdruck kennengelernt. „Der Stress im Kindergarten ist positiver Stress“, sagt Torsten Moerk. „Ich bin abends glücklich und zufrieden“. Dass er jetzt seine Gesamtsituation als positiv bewertet liegt einzig an Pia. „Das hat meine Umorientierung lukrativer gemacht.“ Bei der klassischen Ausbildung hätte er dreimal rechnen müssen. Sie wäre wohl nicht in Frage gekommen. Auch nicht für Sandra Retz.

Ohne das regelmäßige Einkommen hätte die 33 Jahre alte frühere Theologiestudentin die Ausbildung nicht aufnehmen können. „Ich war unabhängig, das wollte ich nicht aufgeben“. Zum Glück für Sandra und auch für ihre Ausbilderin gibt es die duale Erzieherausbildung. „Es war vom ersten Tag an toll“, erinnert sich Sandra Retz ebenso begeistert an ihr erstes Praktikum in Berkheim wie ihre Ausbilderin Eva Silberberger. „Ich will überhaupt nichts anderes mehr machen“ schwärmt Sandra Retz und ihre Chefin nennt sie schlicht „einen Glückstreffer“. Die Pia-Stelle wurde eigens für Sandra Retz geschaffen.

Es musste erst ankommen, dass es die neue Ausbildung gibt, sagt Silberberger. Anfangs hatte man Bedenken, dass die Qualität der Ausbildung leiden könnte. Befürchtet wurde auch, dass die Auszubildenden ganz auf den Stellenschlüssel angerechnet werden. Jetzt sagt Eva Silberberger, der Vorteil der Pia-Leute sei, „sie sind viel reifer. Sie bringen schon ein Leben mit.“ Nicht zu unterschätzen ist auch, „die Pialeute bleiben uns drei Jahre treu. Sie haben die Chance, die Kinder von Anfang an zu begleiten“. In der klassischen Ausbildung gibt es neben dem Anerkennungsjahr verschiedene Praktikumsphasen. Eva Silberberger ist aber davon überzeugt, dass die duale Pia-Ausbildung nicht die bisherige schulische Ausbildung ersetzen wird. „Es wird beides geben müssen“.

Pia bringt zusätzliche Auszubildende für den Mangelberuf

Das glaubt auch Birgit Deiss-Niethammer, die die evangelische Fachschule für Sozialpädagogik in Stuttgart-Botnang leitet. „Pia ist eine sehr gute Möglichkeit für eine ältere Zielgruppe“, sagt die Schulleiterin. Für Realschulabsolventen frisch von der Schule sei sie nicht geeignet. Die neuen Kräfte betrachtet sie als „sehr interessante und hoch motivierte Leute“. Sie seien eine Bereicherung für die Ausbildungs- und Arbeitswelt. Die anfänglichen Befürchtungen sieht auch Georg Hohl, der Geschäftsführer des evangelischen Landesverbands für Kindertageseinrichtungen als ausgeräumt an. Die Qualität der Ausbildung sei nicht gesunken. Auch habe sich die Nachfrage nicht einfach weg von der schulischen hin zur bezahlten Ausbildung verlagert. Es gebe einen „Reingewinn“ von einigen hundert zusätzlichen Auszubildenden. Hohl betont, beide Ausbildungsmodelle hätten ihren Platz. „Wir wollten Pia nie als Ersatz für das klassische Modell“.

Auch die Auszubildenden verstehen sich nicht als Konkurrenten. Sie sind sich vielmehr einig: „Die Bezahlung stimmt längst nicht mehr mit den Anforderungen überein“, sagt Sandra Retz und Torsten Moerk findet „etwas mehr gesellschaftliche Anerkennung würde nicht schaden. Immerhin gehen wir mit Kindern um, dem wertvollsten Gut unserer Gesellschaft“.

Zwei Ausbildungswege in den Kindergarten

Klassischer Weg:
Der schulische Weg zur staatlich anerkannten Erzieherin führt über ein Jahr Berufskolleg, zwei Jahre Fachschule für Sozialpädagogik und ein einjähriges Anerkennungspraktikum. Voraussetzung ist die Mittlere Reife. Gehalt gibt es erst im Anerkennungspraktikum.

Pia:
In der praxisorientierten Erzieherausbildung (Pia) werden alle drei Ausbildungsjahre vergütet. Im ersten Jahr beträgt das Gehalt 793 Euro, im zweiten 843 und im dritten 889 Euro. Es gibt Urlaub statt Schulferien. Die praktische Ausbildung umfasst mindestens 2000 Stunden. An der Schule sind jedes Jahr 22 Wochenstunden vorgesehen. Die Bewerber sollten einen abgeschlossenen Beruf, die Fachhochschulreife oder das Abitur haben.

Erfolgsmodell:
Das Kultusministerium wertet Pia als Erfolgsmodell, das den Beruf für ein breiteres Bewerberfeld attraktiv gemacht habe. Von den 1223 Anfängern des Jahres 2013/14 haben 44 Prozent Abitur oder Fachhochschulreife, 26,4 Prozent haben eine Berufsausbildung abgeschlossen. Das Spektrum der Berufe reicht von Bankkaufleuten bis Floristen. Fünf Prozent der Azubis sind jünger als 18, zwei Drittel 18 bis 25 Jahre alt. 16 Schülerinnen und Schüler haben die 50 überschritten.