Verstößt der permanente Rettungsschirm gegen EU-Recht? Das entscheidet der Europäische Gerichtshof. Eine Anhörung in Luxemburg.

Luxemburg - Der Gong ertönt. Eine Prozession von 23 Männer und vier Frauen in tiefroten Roben mit weißen Beffchen betritt den Saal, der in Goldgelb gehalten ist. Hinter ihnen Vorhänge, die jede Opernbühne schmücken würden. Über ihnen eine riesige Krone aus Metallgewebe. Das Plenum des Europäischen Gerichtshofs tagt. Und es tagt in dieser Form nur sehr selten, nur wenn es ganz wichtig wird. Die mündliche Verhandlung Pringle gegen die irische Regierung ist wichtig genug. Denn in der Sache geht es um den dauerhaften Euro-Rettungsschirm. Der neue, große Verhandlungssaal in Luxemburg ist kein Raum für ein Rechtsgespräch, sondern der Ort für Monologe. Wer die Mimik der Richter erkennen wollte, oder auch nur, ob sie die Augen noch geöffnet haben, benötigte ein Opernglas.

 

Können 27 Richter aus 27 Ländern ein gemeinsames Urteil nicht nur finden, sondern gemeinsam auch überzeugend begründen? Rechts und links im gewaltigen Saal sind über zwei Stockwerke hinweg die Kabinen angebracht, in denen jeweils meist drei Dolmetscher in insgesamt 23 Sprachen simultan übersetzen. Es sind Experten ihres Faches, und sie haben die Manuskripte der Redner vor sich liegen. Und doch: wer der Übersetzung aufmerksam lauscht, merkt rasch, dass viel Präzision und das meiste von den in der eigenen Sprache selbstverständlichen Zwischentönen auf der Strecke bleiben.

Die Interpretation des EU-Rechts werde überstrapaziert

Thomas Pringle ist irischer Abgeordneter. In Luxemburg hat er nichts zu sagen. Sein Anwalt trägt vor, die Europäische Union sei eine Wirtschafts- und Währungsunion, aber „keine Rettungsunion“. Artikel 125 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU verbiete ausdrücklich, dass einzelne Länder für die Schulden anderer Länder haften dürften. Genau das aber geschehe mit dem Rettungsschirm. Außerdem sei der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), so die offizielle Bezeichnung, eine Institution außerhalb der Union und damit auch außerhalb der Charta der Europäischen Grundrechte und der gerichtlichen Kontrolle. Die Väter des Rettungsschirms strapazierten mit ihrer Interpretation des EU-Rechts „den Wortlaut“ des Vertrags „und den gesunden Menschenverstand über die Maßen hinaus“. Sie versuchten, „die offensichtliche Wahrheit auf den Kopf zu stellen“. Politische Sachzwänge dürften aber keinen daran hindern, die Verträge korrekt auszulegen.

Natürlich sieht das der Vertreter der irischen Regierung anders. Es gebe beim ESM nichts, was mit dem EU-Recht unvereinbar wäre. Die überschuldeten Staaten blieben für ihre Schulden haftbar. Die wirtschaftlichen Hilfen seien an strenge Auflagen gebunden. Das ist der Zeitpunkt, da einem Richter der Kopf immer tiefer sinkt und in bedrohliche Nähe zur Tischplatte kommt, ein anderer Richter reibt sich die Augen, hält sie danach mit beiden Händen bedeckt, die seinen Kopf abstützen. Zwei Richtern rutscht der weit nach hinten gelegte Kopf so weit zur Seite, dass es wehtut und sie hochschrecken. Ganz offenkundig sind dies die Körperhaltungen, in denen sie am besten zuhören und nachdenken können.

Fast alle sind beim Rettungsschirm einer Meinung

Die irische Regierung steht nicht alleine. Nach ihr erklären die Vertreter von Belgien, von Griechenland, von Spanien, von Frankreich, von Italien, der Niederlande, der Slowakei, des Europäischen Rates und des Europäischen Parlamentes, dass sie genau derselben Meinung sind. Alle betonen, dass sie dem Wunsch des griechischen Gerichtspräsidenten Vassilios Skouris folgen und sich nicht wiederholen wollen. Und alle sagen dann doch in leichten Variationen immer wieder dasselbe. Selbst der Vertreter des Vereinigten Königreichs mit seiner eindrucksvollen Perücke „möchte betonen“, dass er seinen Vorrednern zustimmt. Obwohl doch Großbritannien sonst in der EU gegenwärtig gern ein bisschen aus der Reihe tanzt.

Bleiben wir also, der Zwischentöne wegen, beim deutschen Vertreter. Der betont zunächst, dass der neue Absatz 3, der dem Artikel 136 des Europavertrags angefügt werden soll, und die Aufgaben des Rettungsschirms umreißt, entgegen der Vermutung des irischen Klägers einen „rein klarstellenden Charakter“ und lediglich eine „deklamatorische Bestimmung“ hat. Und warum hat man dann den ganzen Aufwand gemacht? Nur, weil man in einem „fragilen Marktumfeld“, wo die „geringsten Zweifel an der Zulässigkeit des ESM“ von Spekulanten ausgenutzt werden könnten, eben diese im Keim ersticken wollte.

Letztlich drehe sich alles um die Stabilität des Euro

Der Stabilitätsmechanismus sei ein Vertrag zwischen Staaten der nicht in die Rechte der EU eingreife, die sie gar nicht habe. Insbesondere handele es sich nicht um Währungspolitik, für die die Gemeinschaft zuständig wäre, denn: „Nicht alles, was die Stabilität einer Währung beeinflusst, ist Währungspolitik“. Was die sogenannte No-Bail-out-Klausel angehe, die im Zentrum dieses Tages steht, also das Verbot, für die Schulden anderer einzustehen, „verlassen wir uns nicht allein auf den Wortlaut“ des einschlägigen Paragrafen. Als er formuliert wurde, habe sich niemand die aktuelle Finanzkrise vorstellen können. Jedenfalls solle die Vorschrift dazu dienen, die Stabilität des Euro zu gewährleisten. Würde man den überschuldeten Ländern nicht helfen, würde das dem Ziel der Stabilität „diametral entgegenwirken“. Deshalb dürfe man in solchen Fällen überschuldeten Eurostaaten auch Hilfe gewähren. Weil sonst der Zusammenbruch des Euroraums drohe.

Die besten der Dolmetscher halten sich derweil wach, indem sie beim Übersetzen wild gestikulieren, mit Händen und mit Armen von rechts nach links oder von oben nach unten nachzeichnen, was sie gerade vortragen müssen. Es erleichtert ihnen offenbar die Arbeit.

Die Generalanwältin muss einen Schlussantrag stellen

Zu denen, die die ganze Zeit sehr aufmerksam zuhören, gehört die deutsche Generalanwältin Juliane Kokott. Generalanwälte haben beim Europäischen Gerichtshof eine zentrale Funktion. Sie bereiten ausführlich begründete „Schlussanträge“ vor, denen die Richter dann in mehr als 90 Prozent aller Fälle folgen. Das fällt Generalanwälten auch deshalb leichter, weil sie ihre Begründung nur mit sich selber abstimmen müssen.

Der Abgeordnete Pringle hatte übrigens zunächst vor irischen Gerichten geklagt, in zweiter Instanz vor dem High Court des Landes, das mit dem Bundesverfassungsgericht in Deutschland vergleichbar ist. Dieses Gericht hatte einen Teil der Klagen des Abgeordneten zurückgewiesen und erklärt, der Beitritt Irlands zum Stabilitätsmechanismus verstoße nicht gegen die irische Verfassung. Damit war der Weg für die Ratifizierung der Abkommen in Irland frei. Die Männer mit dem Euro-Rettungsschirm haben inzwischen ihre Arbeit aufgenommen. Einige zentrale Fragen hatten die irischen Richter aber dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt. Der wird frühestens in etlichen Wochen sein Urteil verkünden.

Niemand rechnet ernsthaft damit, dass dieses Gericht den Stabilitätsmechanismus stoppen wird. Kleine Widerhaken oder Handreichungen, mit denen das Bundesverfassungsgericht manchmal überrascht, zählen nicht zum Repertoire der Luxemburger. Aber es wäre eine ambitionierte sportliche Leistung, überzeugend zu begründen, weshalb im Gegensatz zum Wortlaut des Vertrages eine No-Bail-out-Klausel kein Verbot sein soll, für die Schulden eines anderen Landes aufzukommen. Politikern und auch von ihnen beauftragten Anwälten fallen solche Klimmzüge leicht, Richtern gemeinhin schwerer.