Ein Unbekannter hat unter der Paulinenbrücke, am Treffpunkt der Wohnsitzlosen, eine öffentliche Kleiderkammer eingerichtet: Wer hat, der gibt, wer braucht, der nimmt. Der rollende Kleiderständer ist in der Innenstadt bisher ein Novum und wird mit kritischen Blicken begleitet.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Ein warmer Pulli gefällig? Mantel, Mütze, Schal? Wer was übrig hat, verschenkt’s, wer was braucht, nimmt’s mit – so ist er gedacht, der mobile Kleiderständer, der unter der Paulinenbrücke in der Tübinger Straße steht.

 

Der Urheber der Open-Air-Kleiderkammer ist nicht bekannt, aber es gab Vorbilder. Mehrere Einzelhändler stellen seit einiger Zeit öffentlich zugängliche Kisten vor die Tür, gefüllt mit aussortierten Sachen zum kostenlosen Mitnehmen.

Eine „super Nachbarschaftsaktion“

Publik wurde die Aktion unter der Brücke durch Ralph Neipp, einen 51-jährigen Mediengestalter aus Trossingen. Er hatte die Garderobe auf seinem Heimweg entdeckt und prompt seine alten Wintersachen zur Verfügung gestellt. „Meine Winterjacke, Handschuhe und Mütze wurden sofort von einem Frierenden angezogen“, ließ er die Welt auf Facebook wissen. Bei Temperaturen von minus 5 Grad bei Nacht stößt das Angebot vermutlich bei noch viel mehr Passanten auf Gegenliebe.

Bezirksvorsteherin Veronika Kienzle (Grüne) bezeichnet den gut bestückten Kleiderständer als „super Nachbarschaftsaktion, gerade weil es an der Paulinenbrücke so viele Obdachlose gibt“. Sie selbst will einen Wintermantel dazulegen und die Aktion als Anregung in eine der nächsten Sitzungen des Bezirksbeirats mitnehmen.

Die Gefahr droht, dass der Kleiderständer vermüllt

Harald Wohlmann, der Leiter der Fachabteilung Offene Hilfen beim Caritasverband Stuttgart, fühlt sich durch die Aktion an die öffentlichen Bücherregale erinnert. Eines davon steht am Möhringer Bahnhof: Dort können gelesene Bücher abgestellt und von Lesehungrigen mitgenommen werden. „Man muss schon auf das Regal achten, sonst vermüllt eine solche Station schnell.“ Dieselbe Gefahr drohe unter Umständen auch der Open-Air-Kleiderkammer, wenn sich keiner kümmere. Annette Hasselwander vom Abfallwirtschaftsbetrieb der Stadt möchte nicht ausschließen, dass sich binnen Kurzem dort Altkleidersäcke stapeln. Allerdings fehlten Erfahrungen: „Uns sind solche Kleiderständer von keiner anderen Örtlichkeit her bekannt.“ Rolf Kaltenberger, der Leiter der Sozialkaufhäuser und Kleiderkammern der Neuen Arbeit, befürchtet zudem, „dass sich auch der bedient, der es nicht nötig hat“.

Die Neue Arbeit unterhält in der Leonhardstraße eine Kleiderkammer, in der Bedürftige mit 30 Prozent Rabatt einkaufen können. Wer einen Berechtigungsschein von der Diakoniestation oder von der Armenspeisung in der Vesperkirche mitbringt, bekommt die Sachen umsonst. Auch bei der Caritas in der Olgastraße ist der Zugang niederschwellig. Aber man setzt dort laut Harald Wohlmann auf Tauschhandel: Wer kaputte Sachen bringt, kriegt neue, wer dreckige Sachen bringt, bekommt saubere, und die abgelegten Kleider werden gereinigt und neu in Umlauf gebracht, so Wohlmann. „Wohnsitzlose wollen sich nicht die Taschen vollstopfen, die wollen gar nicht so viel mit sich rumschleppen.“