Auf der Insel Spitzbergen dürfte es künftig häufiger im Winter regnen. Dann bildet sich eine harte Eisschicht auf dem Schnee – und viele Tiere verhungern.

Stuttgart - Hilflos kratzt der Rentierhuf über die dicke Eisschicht, die sich als undurchdringliche Barriere zum kargen Grün erweist. Vorher hat ein Warmlufteinbruch mitten im Winter kräftige Regenfälle gebracht. Zu dieser Jahreszeit liegt auf der Insel Spitzbergen im hohen Norden des Atlantiks eine dicke Schneedecke, die ein kräftiges Rentier wegscharren kann. Die eisigen Tropfen aber frieren zu einer soliden Eisschicht auf dem Schnee, gegen die ein Rentierhuf kaum eine Chance hat – der Hungertod droht.

 

„Solche Regenfälle im Winter dezimieren nicht nur die Rentierbestände erheblich, sondern auch die Populationen aller anderen größeren Tiere auf Spitzbergen“, erklärt Brage Hansen von der Universität im norwegischen Trondheim. Der Klimawandel aber dürfte nicht nur Spitzbergen, sondern auch anderen Regionen der Arktis häufiger solche Wetterkapriolen bringen. Er könnte dort also das Leben durcheinanderbringen, berichtet der Forscher gemeinsam mit Kollegen aus Trondheim und Tromsø in der Fachzeitschrift „Science“.

Zuerst hungern die Rentiere

Solche Zusammenhänge lassen sich auf dem rund tausend Kilometer vom Nordpol entfernten Archipel Svalbard mit der Hauptinsel Spitzbergen besonders leicht nachweisen, weil dort nur vier Arten größerer Tiere leben. Neben Rentieren trotzen noch Polarfüchse, eingeschleppte Feldmäuse und Alpenschneehühner dem harschen Winter. Seevögel, Gänse, Watvögel und Eisbären leben dagegen nur vorübergehend auf Spitzbergen.

Schaut sich Brage Hansen die Bestände der vier Dauerbewohner in der Mitte Spitzbergens genauer an, verblüfft ein Zusammenhang. In bestimmten Jahren brechen die Bestände der vegetarisch lebenden Rentiere, Schneehühner und Feldmäuse gleichzeitig stark ein und erholen sich in den folgenden Jahren wieder. Die Zahl der Polarfüchse hinkt dieser Entwicklung um genau ein Jahr hinterher. Den Grund für diese parallele Entwicklung zeigt ein Vergleich mit den Wetterdaten vom Flughafen des ebenfalls im Herzen Spitzbergens gelegenen Hauptortes des Archipels, Longyearbyen: Wenn im tiefsten Winter zwischen Dezember und März kräftige Regenfälle auf die Schneedecke fallen, verhungern viele der Pflanzenfresser. Manchmal überlebt gerade einmal jedes fünfte Rentier.

Für die Polarfüchse beginnt dann eine kurze Zeit im Schlaraffenland, weil sie sich den Magen mit den verendeten Rentieren vollschlagen können. Der nächste Winter aber wird für die einzigen dauernd auf Spitzbergen lebenden Raubtiere umso schlimmer. Nach einer Saison haben sich die Bestände der Pflanzenfresser noch längst nicht wieder erholt. Die Überlebenden des Eisregens aber sind fast immer die kräftigsten Tiere, die im folgenden Winter obendrein kaum Konkurrenten haben, die ihnen das Futter streitig machen könnten. Daher gibt es kaum tote Rentiere, und die Mägen der Füchse bleiben leer.

In der Arktis steigen die Temperaturen besonders stark

Winterregen im Zentrum Spitzbergens fallen bis jetzt im Durchschnitt nur alle vier oder fünf Jahre. Dort fördern die Ausläufer des Golfstroms Warmlufteinbrüche, die in den meisten anderen Regionen der Arktis erheblich seltener sind. Mit dem Klimawandel aber werden solche Wetterlagen wohl überall im Norden häufiger. „Auf Spitzbergen ist es in den vergangenen zehn Jahren rund vier Grad wärmer geworden“, erklärt Brage Hansen. „2012 gab es mitten im Winter sogar zwei Wochen lang einen Warmlufteinbruch mit Regen“, merkt der Forscher aus Trondheim an.

„Das betrifft übrigens nicht nur die dauernden Bewohner der Arktis, sondern kann auch die Sommergäste erwischen“, sagt Hansen. Hungern nämlich die Polarfüchse ein Jahr nach einem Eisregenwinter, weichen sie unter Umständen auf Seevögel oder Nonnengänse aus, die an den Küsten Grönlands und Spitzbergens ihren Nachwuchs großziehen. Der Klimawandel könnte also die gesamte Tierwelt des hohen Nordens beeinflussen.